Kapitel 1

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"Vergiss nie, dass selbst in den dunkelsten Zeiten des Lebens auch immer Schönheit und Freude existieren, so lange ihr drei zusammen bleibt wird euch nichts passieren", hallte die Stimme ihrer Mutter, und Usagi schreckte aus ihrem Alptraum hoch. Zwei Jahre waren vergangen, seit Ikuko ihrer Krankheit erlegen war. Vor zwei Jahren begann der Alptraum, der sich seitdem ihr Leben nannte.

Sie zog den löchrigen Fetzen, den sie als Decke nutzte, enger um sich und schlang dabei ihre Arme um ihre kleine Schwester. Als das Jugendamt damals im Krankenhaus erschien und versuchte, sie und ihre Geschwister mitzunehmen, hatten sie große Versprechungen gemacht, aber am Ende sollten sie in verschiedene Pflegefamilien kommen. Das hatte Usagi dazu veranlasst, in einer Kurzschlussreaktion ihre Geschwister zu packen und zu fliehen. Seitdem lebten sie auf der Straße.

Es war ein hartes Leben, aber wenigstens waren sie so zusammen. Usagi arbeitete gelegentlich für wohlhabende Familien als Tagelöhnerin, aber es reichte nie für mehr als Lebensmittel die sie dringend benötigten. Ihr Bruder Shingo war ein einfacher Taschendieb, und auch wenn es nicht rühmlich war, half ihnen das Geld oft, gerade so über die Runden zu kommen. Die jüngste Schwester Chibiusa war noch so klein, erst fünf Jahre alt, und sollte eigentlich nicht so ein Leben führen müssen. Aber es blieb ihnen keine andere Wahl, welche Familie würde schon drei Kinder gleichzeitig aufnehmen. Außerdem erzählten ihnen andere Straßenkinder von den oft schrecklichen Zuständen die in vielen dieser Pflegefamilien herschten, von Essensentzug bis Prügelstrafen war alles vertreten und einige wurden schlechter behandelt als Sklaven. Nein, so ein Leben wollten sie nicht führen.

Usagi war erleichtert, dass sie vor einigen Wochen diesen notdürftigen Verschlag aus Brettern am Stadtrand von Tokio gefunden hatten. Hier waren sie zumindest vor dem beißenden Wind geschützt, und selbst das Dach hielt noch größtenteils dicht. Sie erinnerte sich daran, wie sie in den vergangenen Jahren in viel elenderen Verhältnissen gehaust hatten, und ein Hauch von Dankbarkeit durchzog sie, während sie Chibiusa enger an sich zog und Shingos regelmäßiges Schnarchen in der nächtlichen Stille hörte.

Über ihren Vater wusste Usagi nichts. Ihre Mutter hatte nie über ihn gesprochen. Alles, was sie damals sagte, war, dass ihr Vater ein gefährlicher Mann sei.

Der Vater von Shingo und Chibiusa hatte hingegen die Rolle eines Vaters in ihrem Leben übernommen und sie aufgezogen, bis er kurz vor Ikukos Erkrankung plötzlich mit einer jüngeren Frau verschwunden war. Als nach Ikukos Tod die Frage aufkam, ob er seine Kinder zu sich nehmen würde, hatte er abgelehnt. Seine neue Partnerin konnte nichts mit Kindern anfangen und wollte diese auch nicht in ihrer Nähe haben.

Der Tag brach an, und für Usagi begann ihr trister Alltag auf der Straße. Sie wachte auf, wenn die ersten Sonnenstrahlen die verwitterten Bretter ihres Unterschlupfs erhellten. Dann schlich sie sich leise heraus und ging auf die Suche nach etwas Essbarem. Chibiusa ließ sie im selbstgebauten Bett aus alten Decken und zerknüllter Zeitungspapier liegen. Sie schlief so friedlich, unwissend über die harten Realitäten, die ihre Geschwister umgaben. Usagi versuchte, sie so gut wie möglich zu schützen und ihr eine Kindheit zu ermöglichen, so gut es eben ging.

Ihre Schritte führten sie zuerst zu den nahegelegenen Müllcontainern, in denen sie oft nach Essensresten suchte. Es war demütigend, aber oft die einzige Möglichkeit, ihren Geschwistern eine Mahlzeit zu besorgen.

Usagi drückte Chibiusa einen zarten Kuss auf die Stirn und machte sich dann auf den Weg, um Geld zu verdienen. Meistens bettelte sie am Stadtrand von Tokio, was ihr hin und wieder einige Yen einbrachte. Wenn sie Glück hatte, wurde sie als Tagelöhnerin angefragt, doch auch diese Tätigkeiten waren oft schlecht bezahlt.

Shingo schlug sich mit seinen fragwürdigen Fähigkeiten als Taschendieb durch, und Chibiusa hielt sich in ihrem improvisierten Unterschlupf versteckt, um nicht gesehen zu werden. Die Geschwister lebten in einer permanenten Gratwanderung zwischen Unsichtbarkeit und dem täglichen Kampf ums Überleben.
Usagi kam an ihrem gewohnten Bettelplatz an, stellte ihren Papierbecher vor sich und hockte sich dahinter auf den Boden. Sie hielt den Rücken gerade, aber ihr Blick blieb auf den Boden gerichtet. Ihre Kleidung war schmutzig und voller Löcher, und sie besaß nicht einmal Nadel und Faden, um sie zu stopfen. Doch was ihr am meisten Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass Chibiusa wieder gewachsen war. Der Winter stand bevor, und ihr Pullover vom letzten Jahr würde ihrer kleinen Schwester nicht mehr passen.

Die Gedanken an die bevorstehende Kälte und die Unsicherheit darüber, wie sie ihre Geschwister warm halten konnte, nagten an Usagi.
Während sie ihren Becher für vorbeigehende Passanten hielt, hoffte sie auf ein kleines Wunder oder eine freundliche Geste, die ihnen helfen würde, den winterlichen Herausforderungen zu begegnen.
Viele Menschen liefen an Usagi vorbei, die meisten ignorierten sie einfach. Einige wenige warfen lachhaft niedrige Beträge in ihren Becher, die kaum einen Unterschied machen würden. Usagi versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen, und lächelte die Vorbeigehenden trotzdem dankbar an, selbst wenn die Spenden minimal waren.
Es vergingen viele Stunden, und Usagis Knie schmerzten bereits vom ständigen Hocken. Sie spürte die Erschöpfung in ihren Gliedern, aber sie konnte nicht aufgeben. Der Winter war unerbittlich, und sie musste genug Geld verdienen, um ihre Geschwister warm zu halten und etwas zu essen zu kaufen.

Plötzlich blieben zwei schwarze Lackschuhe in ihrem Blickfeld hängen. Usagi sah auf und erblickte einen Mann mit langen schwarzen Haaren, der eine dunkle Sonnenbrille auf der Nase trug und ihr verschmitzt entgegen grinste.
"Kannst du kochen?", fragte er sie höflich.

"Ähm... ja... solange es nichts Exotisches ist... die gängigen Gerichte der Region hat meine Mutter mir beigebracht", antwortete Usagi schüchtern.
"Regional klingt perfekt. Dann komm, meine Köchin ist ausgefallen, und du hast einiges an Arbeit vor dir. Ich brauche ein Essen für 8 Personen. Kriegst du das hin?" forschte er weiter.
"Also... ähm... ja... das sollte ich hinbekommen", stammelte sie.

Usagi konnte nicht glauben, dass sie für diesen gutaussehenden Mann tatsächlich kochen durfte. Natürlich kam es gelegentlich vor das die Reichen sich hier billige Arbeitskräfte holten aber üblicherweise für niedrige Tätigkeiten, kochen durfte Usagi bisher noch nie für andere. Schweigend lief sie mit einigen Metern Abstand hinter ihm her und folgte ihm zu seiner Wohnung.
Die Wohnung war geräumig und luxuriös eingerichtet. Die Wände waren in einem eleganten Grau gehalten, und große Fenster ließen viel Tageslicht herein. Ein riesiger Flachbildfernseher zierte die Wohnzimmerwand, und vor ihm stand eine bequeme Ledercouch. Das Wohnzimmer öffnete sich zu einem Essbereich mit einem edlen Esstisch und Stühlen aus dunklem Holz.
Die Küche, in der Usagi bald arbeiten würde, war mit hochwertigen Geräten und glänzendem Edelstahl ausgestattet. Eine Kochinsel in der Mitte des Raumes war mit einer Marmorplatte versehen. Usagi schluckte. Die Wohnung strahlte Wohlstand und Eleganz aus, und sie fühlte sich in dieser Umgebung fehl am Platz. Sie konnte nur hoffen, dass sie den Erwartungen des gutaussehenden Mannes gerecht werden würde, der sie hierher gebracht hatte.

Er deutete auf die Küche. "Eigentlich sind alle Schränke und auch der Kühlschrank immer bis zum Anschlag gefüllt. Es ist mir egal, was du zubereitest, Hauptsache es schmeckt und ist ausreichend für mich und meine Gäste", sagte er und ließ sich auf das Sofa fallen. Er legte locker die Füße auf den Couchtisch und schaltete den Fernseher an.

Usagi konnte immer noch nicht glauben, dass sie in dieser luxuriösen Wohnung stand und für diesen Mann kochen sollte. Sie nickte ihm zu und begann damit, die Zutaten aus den gut gefüllten Schränken und dem Kühlschrank zu holen. Nach und nach sichtete sie ihre Zutaten und überlegte was sie zubereiten könnte. Sie entschied sich für Sukiyaki, ein herzhaftes Eintopfgericht mit dünn geschnittenem Rindfleisch, Gemüse und Tofu, das sie in einer süßen Sojasauce köchelte. Die köstlichen Aromen füllten die Küche, und der Duft breitete sich verlockend aus.

Während sie die Zutaten schälte und schnitt, konnte sie nicht umhin, immer wieder zu dem Mann auf dem Sofa zu schielen. Plötzlich fing er ihren Blick ab.
"Das riecht schon verdammt gut, was wird das denn, Schätzchen?", rief er zu ihr rüber, und Usagi erstarrte. Wie hatte er sie gerade genannt?
"Sukiyaki", piepste sie zurück, immer noch verunsichert über diesen plötzlichen Spitznamen. Sie war es nicht gewohnt, auf diese Weise angesprochen zu werden, besonders nicht von einem Fremden.
Der Mann lehnte sich auf dem Sofa zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, sein Lächeln verschwand nicht. "Sukiyaki also, ich bin gespannt. Ich hoffe, es schmeckt so gut, wie es duftet."
"Sie können gerne probieren, ich bin so gut wie fertig", erwiderte Usagi.

Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Er schwang seine Beine vom Sofa auf den Boden sein Interesse schien geweckt zu sein, und er trat näher an Usagi heran, um einen Blick auf das fertige Gericht zu werfen. Schnell hatte er einen Löffel aus der Schublade gezogen und diesen im Topf gefüllt.
Er pustete etwas und kostete vorsichtig. Ein zufriedener Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus. "Das ist wirklich hervorragend, Schätzchen. Du kannst wirklich ausgezeichnet kochen. An deine Kochkünste könnte ich mich glatt gewöhnen."

Eine verlegene Röte umspielte Usagis Wangen und sie wusste nicht, was sie erwidern sollte. Sie war es nicht gewohnt, Komplimente zu bekommen.
Der Mann zückte plötzlich sein Portmonee und steckte Usagi einige Geldscheine zu. "Ich bedanke mich für dieses wundervolle Essen und hoffe, das reicht als Bezahlung."
Usagi starrte wie hypnotisiert auf das viele Geld in ihrer Hand. So viel Geld hatte sie noch nie besessen. "Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht vergriffen haben?", fragte sie zögernd. Die strahlend blauen Augen des Mannes blickten auf die Scheine in ihren Fingern. "Meine reguläre Köchin nimmt das als Trinkgeld, und wenn ich ehrlich bin, ist dein Essen mindestens genauso gut."

Der Mann öffnete den Schrank neben ihr. "Würdest du den Tisch noch eindecken? Danach kannst du Feierabend machen." Usagi schob sich das Geld in ihre Hosentasche und nickte eifrig.

Schließlich war der Tisch gedeckt, und Usagi trat einen Schritt zurück, um sicherzustellen, dass alles perfekt aussah. "Das Essen ist fertig, und der Tisch ist gedeckt. Ich hoffe, Sie und Ihre Gäste werden es genießen."

Der Mann stand auf und kam näher. "Ich bin sicher, es wird köstlich sein. Vielen Dank, Schätzchen. Ich werde bestimmt noch mal auf dich zurück kommen. Bist du immer an dem Platz?"
Usagi nickte verlegen und machte sich dann auf den Weg zur Tür. Sie hatte noch nur selten solch einer eleganten Umgebung gearbeitet, und die Begegnung mit diesem mysteriösen Mann hatte sie aus der gewohnten Realität gerissen. Er war so nett gewesen und nicht so überheblich wie die meisten anderen. Als sie die Tür erreichte, drehte sie sich zu ihm um.

"Nochmals vielen Dank für die Gelegenheit, für Sie zu kochen. Ich hoffe, wir sehen uns wieder."
Der Mann lächelte und zwinkerte ihr zu.

Mit einem breiten Lächeln schloss sie die Tür hinter sich, erneut zählte sie das Geld und konnte es immer noch nicht begreifen.
Ihr erster Halt war ein kleines Bekleidungsgeschäft, in dem sie einen warmen Pullover für Chibiusa auswählte. Das Mädchen würde diesen Winter nicht mehr frieren müssen.
Dann ging sie zu einem nahegelegenen Laden und kaufte zwei neue Decken, um sich und ihre Geschwister in der kalten Nacht warmzuhalten. Die alten, löchrigen Decken, die sie bisher benutzt hatten, konnten endlich ausgetauscht werden.

Schließlich machte Usagi sich auf den Weg zu einem Imbissstand. Es war das erste Mal seit einer Ewigkeit, dass sie eine warme Speise genießen konnten. Die Aussicht auf warmes Essen war ein wahrer Luxus für sie und ihre Geschwister. Als sie das Essen abholte, konnte sie die Vorfreude kaum zurückhalten. Chibiusa und Shingo würden bestimmt denken, dass sie im Lotto gewonnen hätten, wenn sie das leckere Essen sahen.


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