4 - Wehrlosigkeit

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Schwerelos in dieser Schwärze. Ein Ort, der keine Schmerzen kannte. Ein Ort ohne Gedanken. Sein Dasein nur fließend. Nur selten zeigte sich eine Änderung. Eine Stimme... Ein gleißendes Licht. Warme Worte. Sanfte Hände... und sein eigenes Bewusstsein, was versuchte ihn aus dieser Leere herauszuzerren.

Aber es war schwer... so schwer. Hier war alles ruhig. Niemand, der ihn belog. Niemand, der ihn verletzte. Seine Einsamkeit schlief.... und er selbst existierte nicht...Zumindest nicht wirklich. Hier war er sich selbst und dieser Welt fremd. Wieso sollte er diesem Daseinszustand entfliehen wollen, wenn außerhalb davon die harsche Realität herrschte, die keine Gnade kannte? Dieses Leben jedoch, war noch nicht bereit dazu, ihn gehen zu lassen. Es riss ihn zurück in das Diesseits und zwang ihn dazu die Augen zu öffnen.

Das Erste was Jimin sah, waren verwaschene Farben. Er konnte keinen klaren Blick fassen. Seine Sinne waren zu getrübt. Die Finger ertasteten weichen Stoff. Wo war er? Sich aufzusetzen war ein mühseliges Unterfangen. Die Gliedmaßen zu taub, um sie vernünftig einzusetzen. Ein Zustand, den er sich schnell wieder erbeisehnte, als sich Geist und Körper allmählich einten.

Denn mit einem Mal erschien das Atmen so schwer. Seine Hand schnellte zu seinem Hals. Jeder Versuch nach Luft zu schnappen, endete mit dem Gurgeln seiner Kehle. Selbst sein hilfloses Wimmern ging in dem Röcheln unter.

Zitternde Finger näherten sich seinen Lippen. Natürlich wusste er, was ihm widerfahren war. Die Schmerzen hatten sich in ihn eingebrannt. Sie hinterließen nur weitere Narben auf seiner Seele. Seinem Kopf hingegen wollte es nicht bewusst sein. Es war ein innerliches Flehen und Hoffnung auf Einbildung.

Die Fingerspitzen ertasteten den heißen Mundraum. Speichel umwarb die Haut. Jimin kniff die Augen zu. Er spürte sie. Den Rest davon. Geschwollen und pulsierend. Ein kläglicher Laut entkam seinen Lippen. Es war kein Alptraum. Sie hatten sie ihm wirklich genommen... seine Zunge.

Jimin sackte in sich zusammen. Seine tränenden Augen waren auf das Stück Stoff gerichtet, das seine Beine bedeckte. Was nützte ihm seine gewonnene Stärke, wenn man ihn stetig verletzte? Er fiel und fiel erneut. Wozu sollte er dagegen ankämpfen, wenn nichts blieb als diese Pein?

Er wünschte, er hätte den schwächlichen Jungen hinter sich lassen können, doch er trug ihn stets mit sich. Seine Fassade hatte er mit den Jahren aufgebaut. Sie festigte auch die Mauern seines Herzes. Der Junge in ihm folgte seinen Träumen. Ersehnte sich das Leben auf dem Meer, was er sich immer ausgemalt hatte. Er war der einzige Grund, warum er noch durchhielt. Denn egal, was ihm auch geschah... irgendwo dort draußen wird es etwas geben, was all die Schmerzen wert sein würde. Diese Naivität wollte er in sich bewahren, selbst wenn sie ihn niederreißen sollte.

Eine Weile saß er so da. Der Atem flach, aber zunehmend stetig. Es war, als müsste er selbst das Atmen wieder neu erlernen. Mit jeder verstrichenen Sekunde wich erdrückende Hilflosigkeit der lodernden Wut. Er wollte, dass sie seinen Schmerz kannten. Sie sollten ihn spüren. Und wenn er dafür zum Monster werden würde, dann sollte es so sein. Die Monster waren dieser See nicht unbekannt. Er wäre nur ein weiteres. Jimin wollte sie mit Bitterkeit erfüllen, so wie sie es bei ihm taten. Immer und immer wieder. Ohne Rücksicht.

Seine wackeligen Beine boten ihm kaum Halt. Jeder Schritt drohte ihn zu Boden zu reißen. In seiner Hand hielt er ein Messer. Es hatte vergessen auf dem Tischchen neben ihm gelegen. Es war verwunderlich, dass ihn gar niemand im Auge behielt. Wahrscheinlich dachten sie, dass er keine Kraft habe. Aber wer auch immer ihn behandelt hatte, musste gute Arbeit geleistet haben.

Er war sich sicher. Das hier war die Unterkunft des Schiffsarztes. Die Materialien und Bücher, die die Schränke füllten, ließen das zumindest vermuten. Es war nicht viel. Auf See konnte man die Wunden ohnehin recht schwer behandeln. Zu einem großen Teil lag es am eigenen Körper, der entschied, ob man lebte oder starb.

Ligeia - VMINWo Geschichten leben. Entdecke jetzt