Die Frau in der Wand

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Severus Snape läuft mit schnellen Schritten und wehendem Umhang durch den siebten Stock, in der Hoffnung - oder vielmehr wegen des lästigen Übels - einen bestimmten Gryffindor-Schüler zu finden. Normalerweise hält Snape sich vorzugsweise in den Kerkern des Schlosses auf, in den oberen Stockwerken sieht man ihn nur selten. Allerdings ist besagter Schüler heute nicht wie verabredet zum Nachsitzen erschienen und da es zu umständlich war, sich in die Eulerei zu begeben und eine Eule zu schicken, musste er sich wohl selbst um die Sache kümmern.
Der Tag ist eine Katastrophe gewesen. Snape ist heute in einer noch übleren Stimmung als sonst. Es ist der 30. Januar. Lilys Geburtstag. Am liebsten hätte er sich in seinem Büro eingeschlossen, die Nase in einem Buch vergraben, um diesem Tag möglichst wenig Aufmerksamkeit schenken zu müssen. Stattdessen muss er unterrichten und lässt sein Unbehagen wie selbstverständlich an seinen Schülern aus. Er wünscht sich so sehr, dass... Bei dem Gedanken formt sich ein Knoten in seinem Brustkorb und er schiebt ihn hastig beiseite.
Ein Geräusch erregt seine Aufmerksamkeit. Ein leises Klicken hinter ihm kann seinen Sinnen nicht entgehen. Snape dreht sich lautlos um, als an der großen, leeren Wand des Korridors eine Tür erscheint, von der er sicher war, dass sie vorher noch nicht dagewesen war.
„Severus, was machen Sie..." unterbricht eine Stimme die Stille, als Minerva McGonagall plötzlich im Korridor erscheint und sich vor ihm aufbaut. Severus Snape, der bereits den Zauberstab aus seinem Ärmel gezogen hat, antwortet nicht und weist mit einem Nicken auf die Tür, die sich erst langsam und dann immer schneller öffnet.
„Ist das...?"
McGonagall nähert sich und sieht gerade noch einen leblosen Körper aus der Tür auf den steinigen Boden fallen. Snape nähert sich als erstes der bewusstlosen Gestalt. Sie trägt ein zerissenes Hemd, das mal weiß gewesen sein musste. Die kurzen, hellbraunen Haare stehen zu allen Seiten ab. Der Zaubertranklehrer dreht den Körper um, sodass er auf dem Rücken liegt. Es ist eine Frau. Er schaut sie einen Moment länger an, als er es beabsichtigt hatte. Er berührt die Haut am Hals, ebenfalls etwas sanfter, als er beabsichtigt hatte.
„Sie ist bewusstlos", sagt er schließlich mit tonloser Stimme und schiebt mit seinem Zauberstab eine Haarsträhne aus dem Gesicht der Fremden. McGonagall, die bis jetzt zu überrascht war, um sich zu rühren, schließt zu ihm auf und betrachtet den zusammengesunkenen Körper zu ihren Füßen.
„Wir müssen den Direktor benachrichtigen", schlägt Minerva vor und verlässt Snape, der ihr kalt und ausdruckslos hinterhersieht. Sein Blick verfinstert sich und er presst die Lippen aufeinander. Es missfällt ihm, einfach so ohne Ankündigung stehen gelassen zu werden wie ein vergessener Federkiel und nicht über sein eigenes Handeln bestimmen zu können.
Während Snape mit verschränkten Armen auf die anderen Professoren wartet, kommen einige Schüler vorbei, starrten ihn neugierig an und beginnen, zu tuscheln.
„Habt ihr nichts Besseres zu tun? Zwanzig Punkte Abzug für Gryffindor!", bellt er den Schülern hinterher, die hastig und wütend verschwinden. Plötzlich hört er zu seinen Füßen ein Ächzen. Der zusammengesunkene Körper am Boden beginnt, sich zu bewegen. Eine Stimme stöhnt leise und schmerzerfüllt. Snape legt seinen Kopf zur Seite und betrachtet mit zusammengezogenen Augenbrauen das Bündel, das sich da auf dem steinigen Fußboden windet, ein bisschen aus Neugier, ein bisschen aus Abscheu.
„Wo... wo bin ich?", hört er eine Stimme sagen und bemerkt gleichzeitig, dass der Schulleiter plötzlich lautlos neben ihm erschienen ist.
„Sie sind in Hogwarts, der Schule für Hexerei und Zauberei", antwortet Dumbledore mit sanfter Stimme. Die Frau versucht, sich aufzurichten, ist aber zu schwach und sinkt wieder zu Boden.
„Hexerei? Soll das ein Witz sein"
Die Stimme der Frau klingt auf einmal panisch, vor allem, nachdem Severus Snape ihren Blick mit seinen schwarzen Augen erwidert hat. Sie versucht erneut, aufzustehen, schafft es aber nicht. Minerva McGonagall versucht, ihr aufzuhelfen.
„Nicht!"
Als sich die Frau die Arme schützend vor das Gesicht hält, wird die Professorin plötzlich von einer unsichtbaren Kraft nach hinten und quer durch den Korridor geschleudert. Severus sieht die Fremde skeptisch an und richtet seinen Zauberstab auf sie, als Dumbledore zu McGonagall eilt und ihr wieder aufhilft. Die Frau hat ihre Hände über ihr Gesicht gelegt und hockt noch immer zusammengesunken auf dem Boden. Sie schluchzt, atmet schnell und unregelmäßig.
„Albus, was war das?", fragt McGonagall, als sie ihren Hut wieder zurechtrückt.
„Das war Magie, meine Gute", antwortet der Zauberer ruhig. Er wendet sich dem Bündel am Boden zu: „Würden Sie mir vielleicht verraten, wie Sie heißen? Vielleicht können wir Ihre Familie ausfindig machen." Seine Stimme ist sanft und freundlich, was jedoch nur bedingt dabei hilft, die verängstigte Frau zu beruhigen.
„Ich... ich weiß es nicht..."
Verzweiflung steht in ihren Augen, als sie bemerkt, dass sie sich weder an ihren Namen, noch daran erinnern kann, wo sie wohnt.
„Bitte, Sie müssen mir helfen... ich weiß nicht, wer ich bin und woher ich komme... ich...", stammelt sie, den Tränen nahe.
Professor Dumbledore wendet sich seinen Kollegen zu: „Ich denke, es ist das beste, sie erst einmal hier zu behalten."
„Mit Verlaub, das könnte eine Falle sein, Sir", gab Snape mit kalter Stimme zu bedenken.
„Aber Severus, wir können sie nicht einfach wieder in den dahin zurücksperren, wo sie hergekommen ist", protestiert McGonagall, „wie ist sie überhaupt hinein gekommen und... hinaus?"
Sie wirft Snape einen fragenden Blick zu, dem er gekonnt ausweicht.
Dumbledore schmunzelt für einen kurzen Augenblick.
"Es sieht so aus als hätte Severus den Raum der Wünsche gefunden"
Snape wirft ihm einen skeptischen Blick zu.
„Aber das spielt jetzt keine Rolle. Wir bringen sie in den Krankenflügel. Dort können wir feststellen, ob sie obliviiert wurde", beschließt Dumbledore.
Er wendet sich wieder der Fremden zu: „Wir werden Sie an einen sicheren Ort bringen, aber Sie müssen sich von uns helfen lassen."
Dumbledores freundliches Gesicht beruhigt sie etwas. Sie nickt.
„Severus, darf ich bitten?", Dumbledore sieht den schwarz gekleideten Zauberer an und deutet auf den Fußboden. Snape steckt widerwillig den Zauberstab weg und geht zwei energische Schritte auf die Frau zu und streckt seine Hand aus. Als er die Frau berührt, um ihr aufzuhelfen, zuckt sie kurz zusammen, dann durchfährt sie ein vertrautes Gefühl, das sie plötzlich ruhig werden lässt. Sie atmet kurz und scharf ein und sieht ihn an. Auch Severus Snape fährt bei ihrem Anblick leicht zusammen. Ihre Augen...
Er spürt ein seltsames Spannung in seiner Brust, die hinauf in seinen Hals kriecht, in sein Gesicht, wo sie eine unbekannte Wärme verursacht. Er steht einen Moment lang wie erstarrt neben den beiden anderen Zauberern, bevor er in der Lage ist, das Gefühl mit einem Kopfschütteln abzutun. Dumbledore beobachtet ihn prüfend von der Seite, als hätte er bemerkt, was in dem Meister der Zaubertränke vorgeht.

Die Frau in der WandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt