Der sprechende Hut

79 5 0
                                    

Er kann das Gefühl nicht vergessen, das ihn plötzlich durchströmt hat, als er ihre Hand hielt und ihr in die Augen sah. War es Furcht? Mitleid? Jetzt, einige Tage später, gleiten seine Gedanken immer noch hinunter in den Krankenflügel, wo die Frau ohne Namen sich von dem erholt, was auch immer ihr zugestoßen sein mag. Nach all den Jahren konnte er plötzlich seine Gedanken nicht mehr kontrollieren. Severus Snape wartet vor dem Büro des Schulleiters, den Blick auf den steinigen Fußboden gerichtet. Seine Gesichtszüge erfroren in der Dunkelheit des Raumes.

„Das darf nicht noch einmal passieren", flüstert er kaum hörbar gegen die Tür. Er klopft, hält kurz inne und betritt das Büro.

„Sie wollten mich sehen?"

„Allerdings", antwortet Dumbledore freundlich.

Nach einigen Sekunden unterbricht Snape die Stille:

„Darf ich fragen, wie ist es möglich ist, dass plötzlich jemand unbemerkt ins Schloss eindringen kann?", seine schwere, dunkle Stimme fließt zäh durch das Zimmer, „noch dazu ohne magische Kenntnisse?"

Dumbledore blickt Snape über die Gläser seiner Halbmondbrille an.

„Sie klingen fast beeindruckt. Ich hatte gehofft, dass Sie mir diesbezüglich weiterhelfen könnten. Schließlich ist sie durch den Raum der Wünsche zu uns gekommen. Wenn mich nicht alles täuscht, waren Sie der einzige Anwesende?"

Severus Snape schnaubt nur verächtlich und blickt an Dumbledore vorbei. Er weiß genau, was er damit anzudeuten versucht, geht aber nicht darauf ein.

„Wie dem auch sei", fährt Dumbledore fort, „ich habe mich dazu entschlossen, sie dem sprechenden Hut vorzustellen."

Snape sieht Dumbledore fragend an, ohne zu antworten.

„Nur der sprechende Hut wird in der Lage sein, ihre Identität zu ermitteln. Vielleicht hilft uns das weiter. Sie muss enorme magische Kräfte besitzen, wenn sie ohne Ausbildung und ohne Zauberstab unsere gute Minerva außer Gefecht setzen kann."

„Sie haben doch nicht vor, sie hier zu behalten?", entgegnet Severus mit leichtem Entsetzen und spürt, dass seine Hände plötzlich zittern. Nicht aus Furcht, sondern aus einem anderen Grund, den der Zauberer sich aber nicht erklären kann.

„Haben Sie einen besseren Vorschlag? Sie wurde obliviiert, es gibt keinen anderen Ort, an dem sie bleiben kann. Außerdem wird sie lernen müssen, ihre Kräfte zu kontrollieren. Ich schlage vor, dass Sie in den kommenden Tagen sofort mit dem Unterricht beginnen."

Dumbledore wirkt entschlossen.

„Entschuldigen Sie, aber gehe ich recht in der Annahme, dass Sie verlangen, dass ich die Fremde unterrichte?", entgegnet Snape ungläubig.

„Sie haben mich schon verstanden, Severus. Sie sind der erste in diesem Schloss, der hier mit ihr Kontakt hatte. Ihnen wird Sie vertrauen."

Snape sieht den Schulleiter fragend an und spricht mit scharfer Stimme: „Wenn ich mir den Widerspruch erlauben darf, ich glaube, dass es da durchaus fähigere Kollegen gibt als mich."

„Dürfen Sie nicht", flötet Dumbledore fröhlich und deutet damit an, dass die Diskussion beendet ist.

-

Die ersten Tage in Hogwarts verbringt die Unbekannte im Krankenflügel. Sie sitzt auf dem Bett und schüttelt den Kopf, als sie die letzten Tage Revue passieren lässt. Eine Zauberschule. Sie denkt nach. Alles ging so schnell. Alles hier wirkt auf sie irgendwie seltsam, aber auch merkwürdig vertraut, vor allem die Menschen.

Der große, alte Mann mit dem langen Bart, der... Zauberer, Dumbledore, kam heute morgen zu ihr zu Besuch und hat zu ihr gesagt, sie sei eine Hexe und müsse lernen, ihre Magie zu kontrollieren. Sie hätte ihm nicht geglaubt, hätte sie dieses Schloss nicht mit eigenen Augen gesehen.

Danach kam noch die ältere Frau mit dem Spitzhut, McGonagall, die ihr frische Kleidung gebracht hat. Sie wirkt freundlich, aber auch streng. Aus irgendeinem Grund hat die Fremde das Gefühl, daran Schuld gewesen zu sein, dass die Hexe bei ihrer ersten Begegnung plötzlich durch den Korridor flog. Sie wollte sich unbedingt entschuldigen, aber McGonagall hat nur mit dem Kopf geschüttelt und gelächelt.

Und dann war da der Professor mit den schwarzen Augen. Sie hat ihn seit ihrer ersten Begegnung nicht mehr gesehen, aber sie kann nicht vergessen, wie er sie zum ersten Mal angesehen hat. Sein Blick durchbohrte sie mit einer Mischung aus Angst und... Nähe? Sie hatte keine Ahnung, warum, aber seine Augen, diese kalten, aber schmerzerfüllten Augen und das, was sie in ihr auslösen folgen ihr in den Schlaf. Sie waren der Grund, weshalb sie zugestimmt hatte, hierzubleiben. Außerdem hatte sie angesichts ihrer fehlenden Erinnerungen zunächst auch keine Alternative.

„Wie geht es Ihnen heute?"

Professor McGonagall steht plötzlich vor ihrem Bett und sieht sie sanft an.

„Besser, denke ich, vielen Dank", antwortet die Fremde leise.

„Machen Sie sich keine Sorgen, sie werden sich schnell an alles gewöhnen. Wir gehen jetzt zum Schulleiter, wie wir es besprochen haben, ist das in Ordnung für Sie?"

Die Frau ohne Namen nickt und steht auf. Sie trägt eine schwarze Hogwarts-Uniform ohne Hauswappen. Das einzige, was man auf die Schnelle hatte auftreiben können. Sie folgt Professor McGonagall durch das Schloss hoch in Dumbledores Büro. Auf dem Weg dorthin beobachtet sie die Portraits an den Wänden und die Treppen, die sich durchs Treppenhaus bewegen. Die Schüler blicken sie neugierig an. Als sie endlich den Wasserspeier vor Dumbledores Büro betreten, wird sie etwas nervös.

„Was wird jetzt geschehen?"

„Wir werden Ihnen den sprechenden Hut aufsetzen. Der wird Ihnen hoffentlich sagen, wer Sie sind und in welches unserer vier Häuser Sie gehören."

„Häuser?", fragt die Fremde unsicher, aber da sind sie schon im Büro des Schulleiters angekommen.

„Willkommen, willkommen", begrüßt Dumbledore sie freundlich, sie nickt lautlos zur Begrüßung, „ich nehme an, Professor McGonagall hat Ihnen auf dem Weg hierher alles erklärt?"

„So gut wie", antwortet die Frau.

„Dann kann es ja losgehen."

Dumbledore verschwindet kurz und kommt mit einem alten Filzhut zurück. Währenddessen spürt die Fremde plötzlich die Anwesenheit einer weiteren Person. Sie dreht den Kopf ruckartig zur Seite und bemerkt Severus Snape, der lautlos in seinen schwarzen Umhang gehüllt an eine Wand gelehnt im Büro steht. Stille Spannung im Raum. Es fühlt sich an als würde ihr etwas die Luft abschnüren und sie hört für einen Moment auf, zu atmen. Sie sehen sich an. Vielleicht etwas zu lange, denn auf einmal durchbricht ein Räuspern das Schweigen.

„Sind Sie bereit?"

Die Frau zuckt zusammen, dreht sich zu Dumbledore um und nickt.

„Also dann."

Der Schulleiter geht auf sie zu und setzt ihr den Hut auf den Kopf, der sofort beginnt, sich eigenartig zu bewegen. Sie hört eine Stimme in ihrem Kopf, die vor sich hin brummt und murmelt.

„Wen haben wir denn da? Wir haben uns lange nicht gesehen, nicht wahr? Wie war dein Name? Lauren? Lauren Anderson! Und du gehörst nach... Gryffindor!"

Beim letzten Wort zuckt sie zusammen. Sie spürt, wie ihr der Hut abgenommen wird.

„Lauren Anderson... ich erinnere mich, aber das kann nicht sein...", unterbricht McGonagall die angespannte Stille. Auch Snape hat sich aufgerichtet und sieht sie durchdringend an.

„Was? Was kann nicht sein?"

„Sie dürften eigentlich nicht hier sein." Als Lauren die Stimme Severus Snapes hört, läuft es ihr eiskalt den Rücken hinunter.

„Und... wieso nicht?"

Dumbledore schaltet sich in das Gespräch ein:

„Weil Sie tot sind."

Die Frau in der WandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt