Geheimnisse

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Lauren hat sich seit dem Unterricht bei Snape so gut wie möglich zurückgezogen. Sie erscheint noch zu der Arbeit in den Gewächshäusern und verschwindet dann in ihrer Unterkunft. Wenn sie Snape auf den Korridoren begegnet, senkt sie den Blick und geht wortlos an ihm vorbei. Manchmal meint sie, zu bemerken, dass er sich umdreht und sie ansprechen will. Sie spürt, wie ungesagte Worte im Gang stehen bleiben, nach ihr greifen, dann zögern und weitergehen.

Professor Sprout erwähnt ab und zu, dass sie sich Sorgen mache, weil Lauren nicht mehr zum Essen erscheint (wenn Lauren nicht in die große Halle hinuntergeht, taucht zu den Mahlzeiten auf wundersame Weise immer ein gefüllter Teller auf ihrem Schreibtisch auf). Manchmal erfährt sie von Sprout, dass auch andere Lehrer nach ihr fragen, wobei Lauren nicht entgeht, dass Snapes Name dabei nie zu fallen scheint.

Lauren spricht nicht viel. Ihre Gedanken kreisen immerzu um das, was sie in Snapes Büro gesehen hat. Warum hat Snape mit den Todessern zusammengearbeitet? Lauren hat versucht, mit Dumbledore darüber zu sprechen, aber er sah sie nur eindringlich an, fragte nach dem Grund für ihre Behauptungen und Lauren war nicht in der Lage, ihm die Wahrheit zu sagen.

Und was ist eine Legilimentorin? Natürlich könnte sie in der Bibliothek nachschauen, aber zum einen bereitet ihr die Antwort auf diese Frage Unbehagen und zum anderen versucht sie, so wenig Zeit wie möglich außerhalb ihres Büros zu verbringen, um Snape nicht begegnen zu müssen.

Warum wollte Snape ihr in ihrer ersten Unterrichtsstunde unterstellen, dass sie die Seiten gewechselt habe? Wovor hat er solche Angst? Die Frage, die sie jedoch am meisten beschäftigt, ist: Wer ist Lily? Der Name kommt ihr bekannt vor, aber sie kann sich nicht erinnern.

„Wenn Sie sie geliebt haben..."

Lauren ist hin- und hergerissen zwischen Wut, Schuldgefühlen und Angst. Wut darüber, dass Snape damals einfach dabei zugesehen hat, wie sie gefoltert wurde. Wut, dass er einfach in ihre Gedanken eingedrungen ist und Schuldgefühle, dass sie sich selbst offensichtlich ebenfalls nicht besser unter Kontrolle hatte. Trotz allem hat sie Angst, dass die Verbindung, die sie zwischen sich und Snape gespürt hat, nur Einbildung war oder dass sie nun zerbrochen ist. Sie kann sich dieses Gefühl nicht erklären, das sie erfüllt, wenn er ihr einen Blick zuwirft, den sie nicht bemerken sollte; wenn seine dunkle Stimme zu ihr herüberweht mit Worten, die nicht für sie bestimmt sind; wenn seine Anwesenheit den Raum füllt, ohne aufdringlich zu sein.

Auf dem Weg von den Gewächshäusern zurück zum Schloss stößt Lauren am frühen Nachmittag versehentlich mit Lupin zusammen.

„Oh, Entschuldigung", sagen sie beide gleichzeitig und Lauren blickt zu Lupin auf. Sein Gesicht hat einen sanften Ausdruck, aber er sieht noch erschöpfter aus als normalerweise.

„Miss Anderson", spricht er Lauren freundlich an, „wir haben uns lange nicht gesehen. Ist alles... in Ordnung?"

Bei den letzten Worten mustert er sie besorgt. Lauren fällt auf, dass sie sich in letzter Zeit wohl wenig um ihre äußere Erscheinung gekümmert hat. Jetzt steht sie da, in schmutziger Arbeitskleidung, mit zerzausten Haaren und mit dem Gestank von Bubotubler-Eiter an den Handschuhen, die sie hastig auszieht und in ihre hintere Hosentasche stopft.

„Was machen sie hier draußen?", fragt Lauren, um ihn von ihrem katastrophalen Anblick abzulenken, „unterrichten Sie heute nicht?"

„Nun, ich war gerade auf dem Weg zu...", er unterbricht sich und denkt einen Moment nach: „Warum setzen wir uns nicht und unterhalten uns ein bisschen?"

Er zeigt auf die Treppenstufe, auf der er gerade steht und weist Lauren, sich zu setzen. Lauren folgt seiner Anweisung, die sich seltsamerweise mehr wie eine Einladung anfühlt und lässt sich auf der steinernen Stufe nieder. Lauren sieht sich um: Von diesem Platz aus kann man über die Ländereien von Hogwarts blicken. Warum war ihr das nie aufgefallen? Die Aussicht lässt Lauren für einen Moment die Schatten der letzten Tage vergessen. Sie bemerkt, wie Lupin neben ihr auf die Stufe sinkt. Einen Augenblick sagen beide nichts und beobachten die Landschaft vor sich, dann hält Lauren es nicht mehr aus, die ganzen Gedanken, die ihr in den letzten Tagen durch den Kopf gekreist sind, für sich zu behalten.

Die Frau in der WandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt