Eine Entscheidung

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Lauren bleibt noch eine Weile auf der Treppe stehen und lässt ihren Blick über den verbotenen Wald und die Ländereien schweifen, bevor sie sich umdreht und geht. Auf dem Weg zurück ins Schloss bemerkt sie einen Schatten an sich vorbeihuschen. Sie zieht ihre Jacke enger um sich und verschränkt die Arme vor ihrer Brust, weil sie plötzlich friert. Lauren beschleunigt ihre Schritte, sie hat das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie zieht ihren Zauberstab, aber wenn sich ihre Ahnung bestätigt, wird sie keine Chance haben, sich zu verteidigen. Als sie das Schlosstor fast erreicht hat, werden ihre Beine so kalt und schwer, dass es sich anfühlt wie in einem Alptraum, in dem man rennt, sich aber kaum von der Stelle bewegt. Alles passiert in Zeitlupe, als sie schließlich den Mut fasst, sich umzudrehen.

Lauren blickt in kein Gesicht, als sie die Kreatur ansieht, die sich groß und röchelnd vor ihr aufbaut. Die schwarze Gestalt ohne Augen schwebt rasselnd auf sie zu. Ihr zerfetzter Umhang müsste Lauren eigentlich berühren, aber sie spürt nur Kälte und einen unerträglichen Schmerz. Einen Schmerz, der von einem roten Licht begleitet wird, von dem sie weiß, dass es niemand außer ihr sehen kann. Sie bemerkt noch, dass sie den Zauberstab hebt und versucht, die Worte „Expecto Patronum" zu sprechen, aber ihre Stimme versagt, als der Schmerz überhand nimmt. Sie hört ein leises „Crucio" in ihren Gedanken und irgendwo Snapes Stimme, die „lasst sie verschwinden" befiehlt, bevor sie ihren Zauberstab fallen lässt und wehrlos vor dem Dementor zu Boden sinkt.

Lauren liegt im Gras und dreht in einer letzten verzweifelten Anstrengung, seinen Kuss abzuwenden, den Kopf zur Seite. Sie blinzelt und glaubt, zwischen den roten Blitzen und der Folter Stimmen zu hören. Ihr letzter Gedanke ist, dass sie hier draußen niemand rechtzeitig finden wird, bevor sich Finsternis um sie legt und sie in sanftes Nichts hüllt.

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Lauren weiß nicht, wo sie ist, als sie die Augen öffnet. Grelles weißes Licht, das sie warm und weich umschließt und die Dunkelheit von ihr fernhält. Ist das... ein Tier? In der Ferne eine weitere dunkle Gestalt. Nasses Laub in Laurens Nacken und in ihrem Gesicht, dann hastige Schritte, Knie im Gras und eine Hand mit Zauberstab, die sich vor ihren Augen rasch auf dem Boden abstützt. Erschrockenes Einatmen. Lauren spürt, wie jemand sanft über ihre Schulter streicht. Die Berührung lässt die Kälte des Dementors einer warmen Geborgenheit weichen. Eine seltsame Vertrautheit umgibt sie und Lauren weiß, dass sie jetzt in Sicherheit ist. Sie blinzelt in das Licht, das sie immer noch hell und friedlich einhüllt. Lauren lächelt. Doch bevor sie erkennen kann, wer da neben ihr kniet, verliert sie das Bewusstsein.

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Snape sitzt vor Lauren Andersons leblosem Körper. Meistens kommt er in der Nacht hinauf in den Krankenflügel, um sicher zu sein, dass er nicht beobachtet wird. Als er Lauren am Abend des Angriffs hinauf in den Krankenflügel getragen hatte, herrschte wegen Blacks Auseinandersetzung mit dem Weasley-Jungen und Pettigrews Flucht noch großer Aufruhr im gesamten Schloss und vor allem hier, was sich jetzt erfreulicherweise gelegt hat. Nun ist Madame Pomfrey die einzige, die ab und zu hier auftaucht, um nach dem Rechten zu sehen. Als sie ihn zum ersten Mal alleine an Laurens Bett antraf, hatte sie ihn überaus skeptisch angesehen, ihn dann aber in Ruhe gelassen, als sie erkannte, dass sie von ihm keine Erklärung erwarten konnte. Snape betrachtet nächtliche Begegnungen mit ihr als lästiges, aber notwendiges Übel.

Snape starrt regungslos Laurens Oberkörper an, um sicherzugehen, dass sie noch atmet. Seine Gedanken hämmern laut gegen seinen Kopf und lähmen ihn. Er hat das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen, um seine eigene Hilflosigkeit zu verdrängen, aber es gibt nichts. Tagsüber wälzt er Bücher und hat sogar das Gespräch mit Dumbledore gesucht, aber nirgends ist er auf einen Fall gestoßen, in dem ein Dementorenangriff so langfristige Auswirkungen auf einen Zauberer hatten.

Vielleicht war er zu spät gekommen. Vielleicht hatte der Kuss schon stattgefunden, bevor er da war und... Er schüttelt den Kopf, um die Vorstellung loszuwerden.

Manchmal hat Lauren eine Art Anfall, der für Snape erschreckende Ähnlichkeit mit dem Moment hat, als sie von Bellatrix mit dem Cruciatusfluch gefoltert wurde. Dann hat er zwar das Gefühl, dass doch noch Leben in Laurens Körper steckt, aber mit anzusehen, wie sie leidet, ist verstörend und fast unerträglich. Sie wälzt sich hin und her und ihr Gesicht hat einen verzweifelten Ausdruck, als würde sie gegen etwas ankämpfen. Es ist schmerzhaft für ihn, sie so zu erleben, aber er bleibt. Er bleibt an Laurens Bett sitzen, als wäre er es ihr schuldig.

Eines Nachts, in einem verzweifelten und aussichtslosen Versuch, ihr zu helfen, legte Snape unüberlegt seine Hand auf ihre, und er bemerkte, dass Lauren sich tatsächlich ein wenig beruhigte und ihre Muskeln sich entspannten. Nun sitzt er zu jeder möglichen und unbeobachteten Gelegenheit bei ihr und hält ihre Hand, um dem Gefühl nachzugeben, einen Unterschied zu machen. In diesen Augenblicken bereut er, was er getan hat. Er bereut das Versprechen, das er Dumbledore gegeben hat. Er bereut, dass er Lauren angelogen hat und sie mit der ersten positiven Regung, die sie in ihm auslöste, von sich wegstoßen wollte. Doch in diesem Fall ist es seine Aufgabe, das Richtige zu tun und nicht das Einfache.

Heute hat Snape ein Gespräch zwischen Minerva McGonagall und Madame Pomfrey aufgeschnappt, in dem es darum ging, dass sie Lauren wohl ins St. Mungo bringen werden, wenn sich ihr Zustand nicht bald bessert. Bei dem Gedanken daran erschaudert er. Er kann den Gedenken nicht ertragen, nicht mehr ihre Anwesenheit und ihre Nähe zu spüren. Nicht noch einmal. Doch vielleicht wäre es das beste für beide von ihnen.

Immer noch tief in Gedanken mustert Snape Laurens Gesicht, in der Hoffnung, irgendeine Regung darin erkennen zu können. Er betrachtet ihre blasse, weiche Haut und streicht ihr eine Strähne ihrer zerzausten Haare aus der Stirn. Er erkennt einige feine Narben, die quer über ihr rechtes Auge bis zu ihrer Wange hinunter verlaufen und wahrscheinlich aus ihrer Zeit als Aurorin stammen. Ihm fällt auf, dass er nie darauf geachtet hat, wie verletzlich sie wirkt. Sein tiefer Respekt vor ihr zwingt ihn, diesem Gedanken nicht weiter nachzugehen, denn er spürt, dass er sich zu sehr von ihm einnehmen lässt.

„Sie dürfen nicht sterben, verstehen Sie das?", sagt bestimmt, aber kraftlos in die Stille und die Dunkelheit hinein, während er sich fragt, wie bedauerlich es eigentlich ist, mit jemandem zu sprechen, von dem man keine Antwort erwarten kann. Er erinnert sich daran, irgendwo einmal gelesen zu haben, dass auch bewusstlose Menschen und Fluchopfer ihre Umwelt noch wahrnehmen könnten, doch jetzt, wo er vor diesem leblosen Körper sitzt, kommt ihm das furchtbar albern vor.

Und plötzlich fühlt sich die Hoffnung, dass sie jemals wieder aufwachen wird, so lächerlich vergeblich an. Er senkt den Kopf. Es ist keinen Monat her, dass er ihr zuletzt in die Augen sah und sie fast... Snape schiebt die Erinnerung fort. Soweit darf es niemals kommen. Ihm ist bewusst, dass sie auch ohne ihn in großer Gefahr ist. Seinen lächerlichen Hoffnungen nachzugeben wäre nur ein unnötiges Risiko.

Ihre Augen haben immer gelächelt.

Behutsam nimmt er ihre Hand und umschließt sie mit beiden Händen, während er seine Stirn auf ihre Finger legt. Er kneift die Augen zusammen, als ihm bewusst wird, dass das vielleicht das letzte Mal ist, dass er sie berührt. In diesem Moment beschließt er, die Erinnerung an sie und ihr Lachen irgendwo weit weg zu begraben, sollte das hier der Abschied sein. Dort, wo auch das Andenken an Lily und sein altes Leben ruht. Er würde selbstsicher und aufrecht in sein Klassenzimmer zurückkehren und einfach weiter seiner Arbeit nachgehen und in der Stille dem Gedanken nachhängen, was er ihr alles nicht gesagt hatte.

Die Frau in der WandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt