Kapitel 3

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Severus Snape hielt das Siegel des Briefes gegen das schwache Licht seiner Kerze, als ob er aus den Linien des Wachses Antworten entziffern könnte. Sein Gesicht gab nichts preis, als er das Siegel brach und das Pergament entfaltete. Die Handschrift seiner ehemaligen Liebe war unverkennbar, und jede Kurve jedes Buchstabens war wie eine stumme Stimme aus der Vergangenheit.

Severus,

ich schreibe dir unter dem Druck einer Angst, die mich in den letzten Wochen nicht mehr loslässt. Der Dunkle Lord gewinnt an Macht, und ich fürchte, dass weder James noch ich lange sicher sein werden. Sollte uns etwas zustoßen, möchte ich nicht, dass Harry für immer allein ist. Er braucht jemanden, der für ihn da ist, falls das Schlimmste geschehen sollte.

Das bringt mich zu dem, was ich dir schon so lange hätte sagen sollen. Es geht um Harry, unseren Sohn. Ich hinterlasse dir hier sein Foto. Wenn du es ansiehst, wirst du einen Teil von dir in ihm erkennen. Ich habe dir damals nicht die Wahrheit gesagt, weil ich Angst vor den Konsequenzen hatte, Angst davor, was es für uns alle bedeuten würde. Aber jetzt, angesichts der Bedrohung, die über uns schwebt, muss ich diese Wahrheit ans Licht bringen. James hat Harry wie seinen eigenen Sohn angenommen, und dafür werde ich ihm immer dankbar sein. Aber du bist Harrys leiblicher Vater, und er hat das Recht, das zu wissen, besonders wenn James und ich nicht mehr für ihn da sein können.

Bitte, Severus, ich flehe dich an, lass deinen Groll auf James und die Vergangenheit nicht Harrys Leben bestimmen. Er braucht dich, vielleicht nicht sofort, aber irgendwann. Er braucht jemanden, der ihm zeigt, dass Stärke und Mut nicht nur aus Härte kommen, sondern auch aus Verständnis und Mitgefühl.

Ich weiß, dass du mir vielleicht nicht verzeihen kannst, was ich getan oder nicht getan habe. Aber ich bitte dich, lass es Harry nicht spüren. Er trägt mein und dein Blut in sich, und vielleicht ist er das Beste aus uns beiden.

Er ist dein Sohn, Severus. In seiner Art, die Welt zu sehen, in seinem Lachen, sogar in seiner Sturheit, wirst du Teile von dir erkennen. Vielleicht gibt er dir eine Chance, Dinge anders zu sehen, vielleicht sogar eine Chance zur Vergebung.

Ich bitte dich, sorge für ihn. Er verdient es, zu wissen, dass er geliebt wird, auch von dir.
Deine Lily

Snape hielt den Brief lange, nachdem er zu Ende gelesen hatte, und das Foto von Harry als Baby glitt aus dem gefalteten Pergament. Es war ein einfaches Bild, das Baby eingewickelt in eine kuschelige Decke, die Augen offen und neugierig auf die Welt gerichtet. Snape betrachtete das Bild, sein Gesicht eine undurchdringliche Maske, doch in seinen Augen funkelte etwas, das niemand gesehen hätte, der ihn nicht kannte. Es war nicht Wärme – das wäre zu viel verlangt – aber vielleicht ein Hauch von etwas, das in der tiefsten und verstecktesten Kammer seines Herzens einen leisen Schlag widerhallen ließ.

Mit einem Mal krümmte sich seine Hand, das Foto knitternd, während der Brief in der anderen Hand zu einer zerknüllten Kugel wurde.

»Unmöglich«, flüsterte er, seine Stimme ein rauer Windhauch in der Stille seines Büros.

»Nein,« zischte er leise, seine Finger krampften sich weiter um das Foto.

»Das kann nicht wahr sein.«

Aber Lily hätte nie gelogen, nicht über so etwas. Snape fühlte, wie alte Wunden aufgerissen wurden, wie Zorn und Schmerz sich einen Weg durch die Mauer bahnten, die er um sein Herz errichtet hatte.

»Wie konntest du mir das antun, Lily?«, seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, aber sie war erfüllt von einer Verzweiflung, die er niemandem gestehen würde. Er presste den zerknüllten Brief und das Foto gegen die Tischplatte, seine Hand zitterte, während seine andere sich zu einer Faust ballte. Der Gedanke an Harry, der Junge, der ihm so ähnlich und doch so verschieden war, der Junge, der jetzt etwas von ihm verlangen könnte, was er nicht zu geben bereit war – es war zu viel. Mit einer plötzlichen Bewegung zerknüllte Snape den Brief und das Foto endgültig und schleuderte beides in den nächstgelegenen Mülleimer.

Echo der EinsamkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt