1 | Zeitlos

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Der Himmel stand in Flammen.

An manchen Stellen war er so tiefrot, als hätte er sich geschnitten und würde die Wolken vollbluten. Die Orange- und Rottöne bissen sich mit dem Coelinblau, das langsam einem Nachtblau wich. Der Tag verabschiedete sich jedes Mal auf dieselbe, dramatische Weise, die daran erinnerte, dass Enden auch schön sein konnten.

Auch wenn dieses Farbspektakel sich täglich wiederholte, verlor es nie an seiner Schönheit. Viel mehr gewann es jeden Tag mehr daran. Wie ein Lied, das nur noch besser wurde, je öfter man es hörte, weil man den Text mit jedem Mal selbstsicherer mitsingen konnte. Oder wie ein Buch, welches erst richtig verstanden und geschätzt wurde, sobald man es öfters gelesen hatte.

Ich stand auf einer solchen rot verfärbten Wolke, die sich nass und kalt um meine Beine schmiegte. Wer behauptete, Wolken seien weich wie Watte, hatte sich schwer getäuscht. Wie sich Menschen in vielen Dingen täuschten. Wie das Leben nach dem Tod aussah, was das Dazwischen betraf. Aber vielleicht sahen wir alle die Welt in unserem eigenen Weg. Während ich den Himmel bluten und brennen sah, sah jemand anderes vielleicht Eos, die Morgenröte. Denn während für mich der Tag endete, fing er für jemanden anders gerade an.

Mit einem letzten, langen Blick auf das Farbspiel wandte ich mich ab und sah auf das Gebäude, in welchem ich die meiste Zeit meines Lebens verbrachte. Oder wie auch immer ich meine Existenz im Dazwischen nennen sollte. Das Haus, das Café, der Zufluchtsort - für jede Person etwas anderes - war in einem schlichten Weiß gehalten, umwuchert von Efeuranken, welche scheinbar aus dem nichts kamen und sich an das Gebäude klammerten. Die roten Wolken stiegen heute höher als sonst und verdeckten beinahe die Eingangstür, über welcher in einem verschnörkelten Schriftzug Elysia stand.

Mit langsamen Schritten durch das tiefe Nass näherte ich mich eben dieser Tür. Genug nah dran, erkannte ich, dass Enya oder Lian bereits das geschlossen-Schild angehängt hatten. Gedankenverloren lächelte ich. Ihnen lag wirklich viel an diesem kleinen Café, obwohl sie eher damit beschäftigt waren, die Getränke herzustellen, während ich die schwierigeren Sachen übernahm. Ich wusste, dass es für Enya zu viel war, jeden Tag mit Verstorbenen zu kommunizieren. Besonders bei den jungen Seelen konnte sie kaum sprechen. Als würde es sie wieder lebendig machen, wenn Enya sie ausblendete.

Zephyr strich um meine Beine und trieb mich dazu, in das Café zu stolpern. Die Dielen gaben ein leises Knarzen zur Begrüßung, als ich eintrat. Über mir flimmerten Lampen, die den Raum erhellten. Obwohl das Café leer war und somit auf eine Weise nackt aussah, fühlte ich mich wohl. Mit federnden Schritten begab ich mich ans Ende des Raumes, blickte eine Wendeltreppe hinauf, der ich nicht trauen würde, wüsste ich es nicht besser. Wahrscheinlich sah sie so rostig und alt aus, um neugierige Gäste abzuschrecken. Vielleicht ließ das Haus auch nur Bewilligte hinauf. An manchen Tagen lebte das Café - Lichter flackerten, Fenster schlossen sich, Winde wehten.

»Wo warst du?« Lian stand am oberen Ende der Treppe und blickte auf mich hinab. Dey sah skeptisch aus, als hätte dey beschlossen, mir nicht zu glauben, was auch immer ich sagen würde. Mit langsamen Schritten lief ich zu denen hoch. Obwohl Lian bereits über einem Jahr hier arbeitete, war für dey vieles neu. Aber auch aufregend.

»Ich schaute mir den Sonnenuntergang an.«

Lian seufzte kurz, und deren Blick wanderte weg, fixiert auf einen Punkt, den ich nicht ausmachen konnte. Dey sah beinahe enttäuscht aus, so, als hätte dey gehofft, ich hätte etwas aufregenderes gemacht. Für einen Moment hielt ich Inne, wollte etwas sagen, doch ich wusste nicht, was. Ich hatte keinen Vorschlag, den Lian aufmuntern würde. Dey würde wohl kaum ein Buch lesen wollen. Also wandte ich mich ab. Dieser Ort konnte genauso schön und bezaubernd wie langweilig und elend sein.

An manchen Tagen dachte ich, die Welt stünde still. Ein kleiner Ort über den Wolken, für den die Uhren nicht tickten. Weil alles immer gleich war. Dieses Haus könnte aus dem 20. oder aus dem 21. Jahrhundert stammen. Die Bücher, die in den verstaubten Regalen standen, könnten alte oder moderne sein. Allein die Menschen, die uns besuchten, verrieten, wie schnell die Zeit lief. Der Style, vereinzelte Wörter, Frisuren; alles kleine Hinweise darauf, wie die Welt sich da unten veränderte und floss.

Obwohl ich fest an der Tür zu meinem Zimmer rüttelte, öffnete sie sich nicht. Überrascht drehte ich mich um, blickte aber nur in Lians verwundertes Gesicht. »Manchmal macht Elysia grundlos Dinge. Sie will uns wahrscheinlich etwas sagen.«

»Wer will was?« Enya tauchte neben uns auf und sah sich neugierig um. Braune Locken hüpften auf und ab, Sommersprossen tanzten auf ihrem Gesicht. Niemand würde vermuten, sie wäre bereits neunundzwanzig. Alle unsere Gesichter sahen so aus, wie als wir die Erde verliessen; jung, erst sechsundzwanzig. Ein weiterer Grund dafür zu glauben, die Zeit wäre eingefroren.

»Nichts, Schwesterchen.« Lian verdrehte die Augen.

»Die Tür geht nicht auf.« Zur Bestätigung versuchte ich nochmals, die Türklinke runterzudrücken.

»Oh.« Enya biss sich auf die Unterlippe. »Hm. Vielleicht will sie...« Dann streckte sie ihren Zeigefinger in die Luft, als wäre ihr gerade eine Idee gekommen. Voller Euphorie sprang sie Treppen bis nach unten und sah dann zu uns hoch.
»Tee. Wir brauchen eine Runde Tee.«

Ich nippte wenig später an meinem Fliegenpilztee, welchen Enya für uns aufgekocht hatte. Ihre Tasse war wie üblich rot mit weissen Tüpfeln drauf, die an den giftigen Pilz erinnerten, während ich eine dunkelblaue Tasse mit weissen Pünktchen besaß. Eindeutig ein Sternenhimmel. Lustig, wie eine einzige Farbe die ganze Vorstellung ändern konnte.

Lian blickte nach draußen. Deren Tasse war olivgrün und immer noch bis oben gefüllt. »Habt ihr an manchen Tagen auch Angst, dass wir einfach so... runterfallen?«, murmelte dey, mehr zu sich selbst als an uns gerichtet.

Enya verkniff sich ein Kichern. »Natürlich. Das tun wir alle.« Schulterzuckend rührte sie ihren Tee rum. Ich öffnete gerade den Mund, um zu widersprechen, doch dann bemerkte ich, wie Recht meine Großnichte zweiten Grades hatte. Wenn man so viel Zeit hatte, über das Leben nachzudenken - und das hatte man nirgends sonst als an der Stelle zwischen Leben und Tod - kamen irgendwann auch solche Gedanken ins Spiel. In manchen schlaflosen Nächten erwischte ich mich, wie ich anfing, Fragen zu stellen. Was, wenn eines Tages einfach das Café aus den Wolken fiel?

»Okay, das ist unheimlich. Lass uns über etwas Schönes reden.« Enya nahm einen Schluck ihres Tees.
»Althea.« Die Lampe über ihr ließ ihre Augen wie leuchtende Sonnen aussehen. »Warum erzählst du nicht eine Geschichte? Wir - und ich weiß, dass Lian es auch tut - lieben es, wenn du von den Seelen erzählst, die hier waren.«

Ich führte den Fliegenpilztee an meine Lippen und verlor mich für eine Weile in diesem lieblichen Geschmack. Was eigentlich Gift war, hatte Enya in etwas solch bezauberndes verwandelt. »Also«, begann ich, meine Erzählstimme bereits aufgesetzt, »heute war da jemand...  ich glaube, ihr hättet ihn gemocht.«
Ich beugte mich vor, Enya und Lian automatisch auch. Also begann ich zu erzählen - so lange, bis ich vergaß, dass es überhaupt etwas wie Zeit gab.

The Café between the starsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt