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Wie hypnotisiert lief ich auf die Strahlen zu. Sie leuchteten so hell, wie sie es immer taten, doch in der Dunkelheit stachen sie noch mehr hervor. Sie flüsterten mir leise zu. So leise, dass ich es nur vernahm, wenn ich genau hinhörte. Vielleicht hörte ich die wispernden Stimmen auch nur in meinem Kopf. Die Strahlen zogen mich an wie Licht die Motten. Die dunklen Silhouetten der Stühle und Tische formten sich im Dunkeln zu dämonenähnlichen Kreaturen. Weiße Zähne blitzen auf, worauf ich näher zum Licht stolperte. Das Licht streckte sich nach mir aus, legte sich schützend um mich. Es wich nicht zurück. Überrascht trat ich einen Schritt vor. Das Licht flimmerte wie eh und je vor sich hin. Bemerkte es mich? Vorsichtig trat ich noch einen Schritt näher, meine Augen geschlossen. Bald war ich auf der anderen Seite...

»Was machst du?« Die Stimme schien mich aus einem Traum zu reißen. Ich rührte mich nicht. Eine Hand packte meine Schulter und eine Sekunde lang fühlten sich die sanften Fingerspitzen nach Dämonenklauen an, die mich in den Untergrund ziehen wollten. Ich drehte mich um, von einer seltsamen Angst erfasst. Doch statt in glühend rote Dämonenaugen zu sehen, stand Enya da. Aus ihren Augen flossen zwei leuchtende Flüsse. »Was...?«

Ich erwiderte nichts. »Komm da weg!«, rief Enya nun leicht hysterisch. Sie riss mich weg, so stark, dass ich ein paar Schritte nach vorne stolperte und ihr in die Arme fiel. Sie hielt mich auf, ihre Fingernägel bohrten sich in meine Seite. Vorsichtig, als wäre ich eine ihrer gebrechlichen Tassen, richtete sie mich auf. Mein Körper fühlte sich plötzlich viel schwerer an. Enya suchte verzweifelt meinen Blick, doch ich sah an ihr vorbei. »Warum, Althea? Was machst du hier?« Was sollte ich ihr sagen, warum ich hier war? Dabei war ich mir selbst nicht sicher, was ich damit bezwecken wollte.

»Antworte«, flehte Enya. Sie rüttelte mich, als würden meine Antworten somit aus mir herauspurzeln. Ich schob ihre Hände behutsam weg und schüttelte den Kopf, als würde diese eine Bewegung alles rückgängig machen. Lian tauchte neben Enya auf, deren Miene nicht lesbar, doch in deren Augen sah ich etwas glimmern. Angst?

»Wenn nach dem Tod nicht das Ende kommt, sondern das Dazwischen, und danach das Licht, wo ich auch wieder da sein werde... wann ich bin dann weg?«

»Irgendwann wird auch das Licht enden«, ging Lian gelassen auf meine Frage ein.

»Was redet ihr da?« Enya trat einen Schritt zurück. Die Flüsse auf ihren Wangen waren ausgetrocknet. Sie lehnte sich an einen Tisch, welcher im Licht des Durchgangs weniger an eine Gestalt aus meinen Albträumen erinnerte. »Warum warst du so nahe am Licht?«, setzte Enya an mich gewandt hinzu.

»Es ist nicht zurückgewichen«, stellte Lian fest. »Als ich einmal näher trat, war es, als wehrte es sich gegen mich.«

Enya fuhr zu ihrem Geschwister herum. »Warum hast du...« Sie vergrub ihre Hände in ihren Locken. »Geht es euch beiden gut? Mögt ihr es etwa nicht im Elysia?«

»Doch, mit der Zeit mochte ich sie schon.« Lian grinste. »Wir verstehen uns besser. Keine Sorge, Schwesterchen«, ergänzte dey rasch, »ich war nur neugierig, als ich damals ans Licht trat. Ich bleibe bestimmt bei euch.«

»Ich wusste gar nicht, dass das für uns möglich ist. Ist es das überhaupt?« Enya hatte sich entspannt, als sie gehört hatte, dass Lian nicht plante, das Licht zu betreten. Nun glitt ihr Blick zu mir. Die Hoffnung in ihren Augen, ich würde ebenfalls verneinen, hinderte mich daran, etwas zu sagen. Ich konnte ihrem Blick nicht standhalten. Beinahe hätte ich das Licht betreten, ohne mich zu verabschieden. Bei der Vorstellung, wie Enya und Lian vergebens nach mir suchten, wie Iduna wieder auftauchen würde, nur um zu sehen, wie sie mich ein weiteres Mal verloren hatte, hielt ich die Luft an.

»Keine Ahnung.« Ich zuckte mit den Schultern. »Bei mir wich das Licht nicht zurück.«

Enya nickte und tauschte einen Blick mit Lian. »Weshalb wolltest du hinein?«, wiederholte sie.

»Ist diese Seele - Iduna - vielleicht hinein? Wolltest du ihr folgen?«, mutmaßte Lian.

»Wer ist Iduna nochmals?« Enya sah zwischen uns beiden hin und her. »War das nicht eine Seele? Etwa die, mit der du gestern in deinem Zimmer verschwandest?«

»Sie ist nicht ins Licht«, erklärte ich. »Die Geschichte ist lang. Und äußerst kompliziert. Sie ist nicht der Grund, weshalb ich beinahe ins Licht trat... ich weiß selbst nicht ganz.«

»Lang und kompliziert?« Lian sah interessiert aus. Dey deutete aus dem Fenster. Zwischen den Vorhängen beobachtete der Mond uns. Ich fragte mich, wie viele Geheimnisse er bereits erfahren hatte, Dinge, die in dem Schutz der Nacht geschahen. Wenn er sprechen könnte, würde es täglich von schlechten Dingen regnen. Vielleicht verpackte er seine Worte auch in der Form eines Gewitters. Dabei liebte ich Stürme.
»Wir haben Zeit«, ergänzte Lian.

»Wollen wir nach draußen? Dort erkläre ich euch alles«, sagte ich. Enya schauderte leicht. »Draußen ist es kalt. Suchen wir uns einen gemütlichen Platz.«

»In Ordnung«, stimmte ich zu. »Dann erzähle ich es euch.«

Und das tat ich. Ich fing an mit der Nacht, in der Iduna und ich unter dem Sternenhimmel lagen, und fuhr fort mit dem nächsten Mal, als ich sie traf. Ich verriet nicht zu viel über sie. Das war auch nicht nötig. Ich erklärte ihnen, warum Iduna nicht ins Licht gehen konnte. Als Enya sich erkundigte, weshalb Iduna überhaupt ins Elysia wollte, gestand ich ihnen die Wahrheit. Die beiden tauschten Blicke, lächelten oder zogen mitfühlende Mienen, während ich ihnen alles erzählte. Ich spürte, wie mich ein Gefühl erfüllte, wie das, welches ich hatte, als ich den Nektar trank, als die Worte über meine Lippen flossen. Als ich von dem Gedankenmeer berichtete, schilderte ich mein Erlebnis nicht genau. Ein Großteil meiner Erinnerung an dieses Erlebnis versteckte sich in einem dichten Nebel. Ich erzählte ihnen, weshalb mich das Licht anzog. Als ich fertig war, herrschte für eine Weile Schweigen.

»Du denkst also... dass deine Zeit im Elysia sich dem Ende neigt?«, flüsterte Enya. Tränen klebten an ihren Wimpern wie Tautropfen auf Blättern. »Wirst du uns verlassen?«

Lian wischte sich über die Augen. »Irgendwann ist alles vorbei. Auch unsere Zeit hier.« Dey versuchte, aufmunternd zu lächeln. »Wir sehen Althea wieder. Ja?«

So sehr ich Worte wie »immer« und »nie« respektierte, hielt ich mich auch vor Versprechungen fern. Deshalb beschloss ich, nichts dazu zu sagen. Aber bestimmt würden auch die beiden zu mir ins Licht kommen, dann, wann jemand neues ins Elysia trat und sie übernahm. Wir würden uns wiedersehen. Irgendwann.

»Althea?«

»Ja? Sorry. Ich brauche wahrscheinlich einfach Schlaf.«

»Wir auch«, antworteten die Geschwister synchron.

»Du kannst ja morgen entscheiden, was du genau machen möchtest«, setzte Enya hinzu.

Wir alle drei wussten, dass meine Entscheidung bereits gefallen war.

The Café between the starsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt