6 | Abstecher zu den Lebenden

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Ich war seit Jahren nicht mehr hier gewesen. Obwohl ich unsichtbar war, unscheinbare Luft, eine unbedeutende Person, fühlte ich mich, als würde die ganze Erde sich gegen mich stellen. Die Luft war dick und mein Blickfeld verschwamm immer wieder vor meinen Augen. Es war so, als hätte es nur genug Sauerstoff für die Lebenden. Keinen Platz für Leute wie mich hier. Wie ein Puzzlestück, welches nicht zu den anderen passte.

Ich wusste, dass ich das nicht tun sollte. Aber es waren nun Tage vergangen, seit dem Iduna nicht mehr bei uns gewesen war. Sie musste irgendwo hier sein - ich hatte an sie gedacht, bevor ich die Erde betreten hatte - und wenn sie nicht zu uns kommen wollte,  kam ich sie holen. Es war nie gut, wann sich eine Seele zu lange auf der Erde aufhielt. Iduna war besonders hartnäckig. Komisch, wie lange sie es aushielt, sich hier aufzuhalten, wenn sie sich genauso wie ich fühlte. Ein Druck auf der Brust, in den Ohren. Als wäre ich ganz tief unter Wasser und würde langsam von der gewaltigen Masse ertränkt werden.

Meine Beine stolperten über das Backsteinpflaster, als wäre ich ein kleines Kind, welches gerade das Laufen erlernt hatte. Neben mir huschten Menschen umher, die den verschiedensten Altersgruppen angehörten. Die meisten von ihnen hatten helle Haut, ein ernstes Gesicht und trugen Arbeitskleidung. Eine Mutter mit einem Kinderwagen lief gerade neben mir vorbei, blonde Locken um ihr müdes Gesicht. Ich warf einen Blick in den Kinderwagen. Zwillinge, beide schlafend.

Mit einem Mal spürte ich ein seltsames Ziehen in mir, als würde sich mein Körper ausdehnen. Meine Sicht verschwamm weiter, in meinem Kopf pochte es. Ich versuchte zu verstehen, was geschah; es war, als würde ein besonders starker Wind mich zerreissen wollen. Keuchend sah ich mich nach der Ursache um. Da sah ich sie; ein Mensch war durch mich gerannt, was sich so seltsam anfühlte wie es klang. Ein Mädchen, um die fünfzehn Jahre, drehte sich um und schaute mit einem überraschten Blick zu mir. Ihre Augen blickten durch mich hindurch, doch ich wusste, dass sie etwas gespürt hatte. Während ich mich wieder sammelte und das seltsame Gefühl nachließ, als wäre ich gerade in viele Teile zerteilt worden, drehte sie sich wieder um. Das Mädchen lief weiter, als wäre nichts passiert. Zurück blieb ich, mit schwerem Atem und schnell schlagendem Herzen.

»Elodie!«, hörte ich eine Frau rufen. Es war die Frau mit dem Kinderwagen. Mittlerweile hatte sie sich etwas von mir entfernt und wartete nun vor einem Laden auf das Mädchen, offensichtlich ihre Tochter. An einer Hauswand lehnend blickte ich ihr nach. Vielleicht sollte ich meine Suche nach Iduna anders fortsetzen. Ich wollte nicht, dass weitere solcher Zwischenfälle passierten. Ich brauchte Hilfe. Ein Medium vielleicht? Jemand, der Seelen auf der Erde aufspüren konnte?

Ich ließ meinen Blick schweifen, als würde mir die Idee da ins Auge springen. Doch alles, was ich sah, waren Menschen, die durch die Straßen hetzten, vereinzelte Autos. Backsteinhäuser mit grünen Gärten, wolkenverhangener Himmel im Hintergrund. Ich war irgendwo im Nirgendwo. Trotzdem glaubte ich, aus einem bestimmten Grund hier gelandet zu sein.

Vor mir blieb plötzlich eine Frau stehen. Sie hatte ein rundliches Gesicht, das mich sofort an den Mond erinnerte, und rot gefärbte Haare, die etwas von Flammen hatten. Ein schöner Verlauf von Rot zu orange zu gelb.
Die Haare hatten mich so abgelenkt, dass mir die Augen gar nicht aufgefallen waren; sie waren stechend Giftgrün, von einer goldenen, runden Brille umrahmt und sahen mich direkt an.

Ich wagte es nicht, mich umzudrehen, ob vielleicht hinter mir etwas war, auf das sie gerade starrte. Ihr Blick war so intensiv, dass er mich nicht losließ. Wie in einem Bann hielt sie mich gefangen. Ein paar vereinzelte Gedankenfetzen zogen durch meinen Kopf. Vielleicht war sie ja tot? Eine Seele, die gerade auf ihrem Weg ins Dazwischen war?

»Ich habe meinen Look etwas geändert.« Die Stimme der Frau klang wie Feuer, welches knisterte und loderte. »Deshalb erkennst du mich nicht.«

Ich öffnete meinen Mund, doch es kam nichts raus. Ein Mann hetzte an uns vorbei und warf der Frau einen abschätzigen Blick zu. Er musste sie also sehen. Doch dann... was war sie? Hinter mir war eine Hauswand, und sie sprach wohl kaum mit Gestein.

The Café between the starsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt