12 | Enya und Lian

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»Trink.« Eine kalte Tasse wurde mir an die Lippen gepresst. Sofort vertrieb etwas Leichtes das Wasser in meinen Lungen. Wie Nektar in der Form von Sauerstoff. Als würde ich Ambrosia zu mir nehmen, den Trank der Götter und Göttinnen. Unwillkürlich lächelte ich und schlug die Augen auf.

Enya stand vor mir, mit besorgtem Gesicht. Ihre Augen waren leicht gerötet. Als sie mich lächeln sah, fing sie sofort vor Freude an zu lachen. »Dir geht es gut! Den Moiren sei Dank.«

Ich nickte, noch nicht dazu fähig, etwas zu sagen. Ich befand mich auf meinem Bett, Enya saß an der Bettkante. Ich erhaschte einen Blick nach draußen. Der Himmel war von Sternen übersät. Wie lange war ich weg gewesen?
Als hätte Enya in meinen Kopf geschaut, sagte sie: »Ein halber Tag warst du bewusstlos.« Sie sah mich nicht an. »Du bist auf einer Wolke gelegen. Es sah aus, als würdest du schlafen, aber dein Gesicht war unnatürlich blass.« Enya umgriff die Tasse mit dem nektarähnlichen Getränk fester. »Du hattest Tränen an den Wagen, deine Hände waren verkrampft... wie letztes Mal.«

»Es tut mir leid.« Mehr sagte ich nicht.

Enya stieß einen langen Seufzer aus. Plötzlich sah sie älter aus, als sie war. Nicht auf eine schlechte Weise, im Gegenteil - als sie ins Elysia kam, war sie eine junge Erwachsene, hatte kaum Erfahrung über das Leben gehabt. Nun war sie sich bewusst, dass das Leben kein Zuckerschlecken war, und konnte damit umgehen.

»Ruh dich aus. Morgen werden Lian und ich die Arbeit übernehmen«, bestimmte sie. Ich widersprach nicht.

Nach einem kurzen Schweigen setzte sie hinzu: »Althea... ich bin hier, falls du reden willst. Du überarbeitest dich nicht letzter Zeit.« Sie nickte langsam. »Das wird es sein, oder? Etwas Entspannung, bevor du wieder weitermachst. Ich könnte es nicht ertragen, dich unglücklich zu sehen.«

»Ja, ich muss mich ausruhen«, stimme ich mit einem Lächeln zu. Während ich die Worte aussprach, verspürte ich einen Stich in meinem Herzen. Das Gedankenmeer verfolgte mich noch, und es zog mich in Richtung Licht. Enya wusste nichts von meinen Gedanken. Sie wusste nicht einmal von Idunas weiteren Besuchen. Ich nahm an, sie hatte die Seele schlicht vergessen.

Enya stellte zufrieden die Tasse auf dem Nachttisch ab und gähnte. »Willst du mir erzählen, was genau passierte?«

Ich sah in ihr von Augenringen und Müdigkeit gezeichnetes Gesicht. Sie musste die letzten Stunden hier gesessen und für mich gesorgt haben, wie ich sie kannte, ohne eine Pause. Obwohl Schlaf im Elysia nicht wirklich von Nöten war, gab es Müdigkeit. Diese glich mehr emotionaler Erschöpfung - Stress, Sorgen, zu viele Gedanken.

»Geh nur«, murmelte ich. Ich konnte nur mit Mühe sprechen. »Aber danke, Enya. Hab vielen, vielen Dank.«

Sie schien erleichtert zu sein, gehen zu dürfen, auch wenn sie sich nichts anmerken ließ. »Ruf mich, wenn du etwas brauchst«, erklärte sie mir, bevor sie aus dem Zimmer huschte. Ich griff nach der Tasse neben mir und trank noch einen Schluck dieses Wundergebräus. Sofort fühlte ich mich, als würde ich über Wolken schweben, weit weg vom Gedankenmeer.

»Schmeckt himmlisch, oder?« Ich blickte über den Tassenrand und registrierte Lian. »Enya hat mir auch eine Kostprobe gegeben. Aus Geschwisterliebe oder um zu testen, ob es vielleicht doch nicht giftig ist, bin ich mir nicht so sicher.«

Dey trat an mein Bett heran und setzte sich dorthin, wo vor kurzem noch Enya saß. »Du hast es wieder getan«, stellte dey nun sanfter fest. Ich schwieg, weil ich nicht wusste, was ich denen erzählen sollte. Ich konnte kaum lügen.

»Wahrscheinlich wirst du mir nicht erzählen, was genau passiert ist. Solche Dinge würdest du eher Enya anvertrauen«, fuhr dey fort. Ich wollte denen widersprechen, doch dey hob abwehrend die Hände. »Alles okay«, versicherte dey. »Ich habe nur eine kleine Frage.«

»Ja?« Nach einem weiteren Schluck des Nektars hörte sich meine Stimme engelsgleich an. Ich lehnte mich zurück in die weichen Kissen, die etwas von Wolken hatten.

»Also.« Lian überschlug deren Beine und sah mich vielsagend an. »Ich erinnere mich an eine Seele, die vor einiger Zeit bei uns war. Einmal warst du sogar bei den Lebenden, um sie zu suchen, denn sie ging nicht ins Licht. Wenn ich mich nicht täusche, ist sie das immer noch nicht.«

Ich riss die Augen auf. Ich hatte angenommen, Enya und Lian hätten Iduna vergessen. Ich wich Lians prüfendem Blick aus, indem ich in die mittlerweile leere Tasse sah und wartete, bis dey weitersprach. »Ist dies der Grund... weshalb es wieder passiert? Deine... nennen wir sie mal Panikattacke, die du erlitten hast?«

Bevor ich genauer darüber nachdachte, nickte ich. Iduna ging nicht ins Licht - dies war ein plausibler Grund, weshalb ich mir Sorgen machen könnte. Ich hatte ja auch Angst um sie, aber deswegen war ich nicht im Gedankenmeer versunken. Ich wollte Lian nicht erzählen, was der wahre Grund war - nämlich ein unergründliches Verlangen nach etwas, was ich vermutlich nie haben werde. Warum sollte ich dey damit belasten?

»Der Vorfall passierte also aufgrund dieser Seele?«, vergewisserte sich Lian und faltete deren Hände vor sich.

Ich sank tiefer in die Kissen. »Worauf willst du hinaus?«

Lian fing an, breit zu grinsen. »Ich habe euch letztens durch ein Fenster gesehen. Ihr seid hierher gerannt und saht unbeschwert aus. Ich habe dich lange nicht mehr glücklicher gesehen.« Dey hielt Inne. »Ihr scheint euch gut zu verstehen.«

Ich zuckte mit den Schultern und versuchte, gleichgültig auszusehen. Lian ließ sich nicht beirren. »Tut mir schrecklich leid, sollte ich zu viel hineininterpretieren... aber bist du womöglich bedrückt, weil du nicht willst, dass sie geht? Ich weiß, weit hergeholt. Musst auch nichts dazu sagen...«

Es war, als hätten Lians Worte einen Schalter in mir umgelegt. Die Idee war mir noch nie in den Sinn gekommen. Wollte ich eigentlich, dass Iduna ging? Aber es war nicht anders möglich. Sie musste gehen. Könnte es aber sein, dass ich sie lieb gewonnen hatte, wie mir Lian und Enya wichtig waren, oder auf eine ähnliche Weise? Ich dachte an Karamellaugen, schwarze Locken und weinrote Lippen, an ein Lachen, welches ich um jede Zeit willkommen heißen würde. Ich mochte Iduna, ja. Genauso wichtig war es mir jedoch, dass Iduna ihre Ruhe im Licht finden konnte.

Mein Schweigen ließ Lian vermuten, ins Schwarze getroffen zu haben. Deren Lächeln war freundlich und traurig zugleich.
»Erzähl Enya bitte nichts davon. Sie wird nur zu viel darüber nachdenken und versuchen, mir zu helfen, obwohl es nichts zu helfen gibt«, bat ich dey und schloss die Augen.

»Okay«, stimmte Lian zu. »Soll ich dich alleine lassen? Oder...« Dey wandte sich zum Gehen.

»Warte - wenn du willst, kannst du noch bleiben.« Ich lächelte schwach. »Willst du vielleicht noch eine Geschichte hören? Über eine Seele, etwa in unserem Alter. Ich habe euch diese Geschichte noch nicht erzählt, also, wenn ihr möchtet...« Ich deutete einladend auf den freien Platz neben mir.

»Oh, ja. Warte, ich hole Enya, sowas will sie bestimmt nicht verpassen.« Lian sprang auf und rannte aus dem Zimmer, um an der Zimmertür deren Schwester zu hämmern. Ein Lachen stieg in mir auf, begleitet von einem anderen, angenehmen Gefühl. Es löschte die letzten, schweren Wassertropfen aus mir und füllte mein Herz mit Wärme.

The Café between the starsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt