8 | Existenz

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»Hey.« Iduna hob die Hand und lächelte schwach. »Tut mir leid, dass ich so lange weg war.«

Immer noch benebelt sah ich zu der Frau hoch. Ohne die Arme, die mich festhielten, fühlte ich mich nackt und kalt. Mit zitternden Knien erhob ich mich und versuchte seriös zu wirken, als ich auf sie zulief. »Wo warst du?«

Iduna presste die Lippen zusammen. Ihre Augen huschten umher, während sie ihre Hände vor sich faltete. »Auf der Erde«, erklärte sie zaghaft. »Aber jetzt bin ich ja wieder hier.«

Ich trat von Iduna zurück und setzte mich, immer noch zitternd, auf mein Himmelbett. Die Seele schloss die Tür hinter sich und lief mit vorsichtigen Schritten zu mir, bevor sie sich neben mich setzte. Sie sah mir immer noch nicht in die Augen. Vielleicht war sie nervös, weil sie dazu bereit war, ins Licht zu gehen. Weil sie ihre Entscheidung getroffen hatte.

»Bist du bereit?«, fragte ich also. Wenn sie wirklich bereit war, hatte Ailsa Recht gehabt. Ich war zu unruhig gewesen. Wahrscheinlich hatte Iduna sich Zeit zum nachdenken genommen. War durch die Welt gestreift, hatte in der Vergangenheit gehängt, bis sie bemerkt hatte, was sie jetzt tun sollte.

Iduna sah müde aus. Das Grau der Wolken, die vor dem Fenster hingen, färbten auf sie ab. Sie sah mich nun an, zwei erloschene Sonnen, die mich fixierten. »Ich... nein.« Iduna schüttelte zur Bestätigung den Kopf. Ich spürte, wie mein Mut sank.

»Weshalb bist du dann hier?« Ich setzte mich etwas gerader hin und bemühte mich um eine neutrale Stimme. Während ich mir von außen hin nichts anmerken ließ, schrie mein Inneres laut. Blieb nur noch die Frage, bis ich auch äusserlich nicht mehr gelassen damit umging, dass Iduna nicht ins Licht ging. Spätestens jetzt hätte sie weg sein sollen.

»Ich dachte... vielleicht...« Iduna schien ehrlich mit sich zu ringen. »Ich könnte dir ja erzählen, wie mein Leben war. Vielleicht hilft dir das ja... mich zu verstehen.« Sie zuckte mit den Schultern.

»Das ist fantastisch.« Ich lächelte. »Vielleicht hilft es ja auch dir.« Daraufhin lachte Iduna, aber nicht aus Erleichterung oder Belustigung. Das Geräusch hatte nichts von dem, das ich vor ein paar Tagen noch so schön fand. Sie klang heiser, als wäre sie erkältet. Was selbstverständlich als eine Seele ohne Körper, der erkranken konnte, unmöglich war. Aber sie konnte dennoch krank werden. Auf eine andere Weise, die äusserlich selten sichtbar war.

»Warum gehen wir nicht nach draußen?«, schlug ich vor. Obwohl es vor dem Fenster immer noch wolkenverhangen war, würde etwas frische Luft Iduna bestimmt guttun. Mir fiel auf, dass es immer noch Nacht sein musste, und dass das Café eigentlich noch gar noch nicht geöffnet war. Ich beschloss, nicht nachzufragen, wie und warum Iduna zu dieser Zeit wieder hierher kam.

Als wir uns draußen auf zwei gemütliche Sessel gesetzt hatten, begrüßte uns kalter Wind und ein paar Regentropfen, die sich zu uns verirrt hatten. Zwischen den grauen Wolken spähten Flecken dunkelblauen Himmels hervor. Der Topf mit den Vergissmeinnicht stand immer noch da und wurde von Iduna interessiert gemustert. Ich wollte wissen, was ihr durch den Kopf ging.

»Also«, setzte Iduna an. Sie hatte ihre Beine überkreuzt und ihren Körper mir zugewandt. »Die ersten Jahre meines Lebens waren vermutlich die besten. Wenn ich so überlege, war das eigentlich eine ziemlich kurze Zeit, denn ich bin... achtundzwanzig.« Sie holte tief Luft. »Ich hatte Spaß am Leben. Ich habe viele tolle Leute kennengelernt. Irgendwann aber zogen auch diese in ihr eigenes Leben. Arbeiten, studieren, oder auch schon eine Familie gründen, denke ich. Solche Dinge.« Kurz huschte der Ansatz eines Lächelns über Idunas Gesicht, welcher aber gleich wieder von einem finsteren Schatten abgelöst wurde. »Meine Eltern starben früh. Vielleicht lag es an dem Alter, aber eher daran, dass sie nicht den gesündesten Lebensstil pflegten.«

Ich wagte es nicht, mich zu bewegen, damit die Seele ihre Erzählung nicht unterbrach. »Ich habe mich von meinen Freunden und Freundinnen ziemlich distanziert. Aber ich war nicht ganz allein. Ich hatte eine Person, die ich besonders mochte. Mit ihr konnte ich einfach ich sein. Wir waren wie füreinander geschaffen.« Idunas Blick war in die Ferne gerichtet, in ihren braunen Augen schimmerten Erinnerungen an ihr vergangenes Leben. »Sie ist auch gestorben. Sie war weg, von einem Tag auf den anderen. Ich dachte, ich könnte damit leben. Ich trauerte ihr viele Jahre nach. Und ich tue es jetzt immer noch.«

Ich erklärte mir den Tropfen, der von meiner Wange auf meine Hand tropfte, mit dem Regen. »Ich glaube, anfangs versuchte ich es tatsächlich, über sie hinwegzukommen. Ich dachte, ich könnte neu anfangen. Aber es ging nicht. So sehr ich es auch versuchte. Ich fiel ein Loch, in ein tiefes, schwarzes Loch. Ich versuchte ihm zu entkommen... aber es hielt mich gefangen.«

Der Wind strich Iduna ihre Haare aus dem Gesicht. Sie hatte eine neutrale Miene auf, aber ich erkannte eine Maske, wenn ich sie sah. In ihren Augen stand die Wahrheit. »Ich hatte kein Leben, Althea.« Zum ersten Mal, seit die Seele mit ihrer Erzählung angefangen hatte, sah sie mich an. »Die letzten Jahre meines Lebens existierte ich bloß. Ich denke, ich hatte ein paar schöne Momente... aber sie versiegten gleich wieder.«

Für ein paar Augenblicke herrschte Schweigen. Die Stille war unangenehm Laut, bis ich sie brach. »Danke, dass du mir das anvertraut hast, Iduna. Es macht mich schrecklich traurig zu hören, wie einige Seelen kein glückliches Leben führen können.« Ich setzte eine Pause, während in meinem Kopf sich eine Frage formte, vor deren Antwort ich mich leicht fürchtete. »Wie ist es dazu gekommen, dass du nun hier bist?«

»Ich habe etwas getrunken, das mir schadete. Eine allergische Reaktion, denke ich«, erklärte Iduna. Aber die Schatten in ihren Augen sagten mir, dass da noch etwas anderes dahintersteckte. Ich entschied, nicht nachzufragen.

»Ist dir bewusst, dass sie im Licht auf dich warten? Deine Eltern? Einige der Leute, mit denen du befreundet warst? Und auch diese besondere Person?« Ich ließ meine Stimme hoffnungsvoll klingen. »Sie warten dort. Ich bin mir sicher. Im Licht gibt es keine Dunkelheit, erst Recht keine schwarzen Löcher.«

Iduna seufzte tief. Sie schloss ihre Augen und lehnte sich zurück. In diesem Moment sah sie unglaublich zerbrechlich aus. »Ich kann nicht... ich will nicht ins Licht.« Die Seele presste ihre Lippen fest aufeinander.

Das »Warum?« lag mir auf den Lippen. Aber ich wusste, dass es nicht viel bringen würde. Sie sah so auf einmal so schrecklich verloren aus, anders als das erste Mal, als ich sie traf. Nach dieser Geschichte wollte sie wahrscheinlich nicht mehr über ihr Leben - beziehungsweise ihre Existenz - sprechen. Also beugte ich mich zu ihr hinüber und legte ihr meine Hand auf den Arm. »Wenn du magst, kannst du noch eine Weile bleiben. Das Café ist sowieso noch nicht offen, also habe ich nichts zu tun. Vielleicht kann ich - oder Enya - uns einen Tee machen.«

Eine schwarze Locke kitzelte meine Finger, als Iduna hochsah. Ein Funke Licht glomm in ihren Augen auf. »Das ist nett«, sagte sie. »Machst du das eigentlich auch mit anderen Gästen? Bestimmt hattest du noch niemanden wie mich hier.«

Mein Lächeln vertiefte sich. »Nein, jemand wie du war noch nie hier. Aber es ist okay«, sagte ich hastig, »du bist willkommen.« Ich zog meine Hand zurück und stand langsam auf. »Was willst du dann trinken? Wir haben verschiedene Teesorten, zum Beispiel -«

»Warte.« Iduna sprang so schnell auf, dass ich es kaum wahrgenommen hatte.
»Bei Kronos, ich habe die Zeit vergessen.«

»Was meinst du?« Ich schüttelte den Kopf. »Du kannst so lange bleiben, wie du möchtest. Zeit spielt hier keine Rolle.«

»Es tut mir leid.« Mehr sagte die Seele nicht. Ich überlegte, nachzufragen, aber ich war mir sicher, dass sie heute nicht mehr von sich verraten würde, als sie es bereits getan hatte.
»Komm bald wieder«, seufzte ich, »und nimm dieses Mal den gewöhnlichen Weg zur Erde, wenn du gehst.«

The Café between the starsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt