10 | Lebendig

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Die grauen Wolkenspitzen verfärbten sich, als wären sie von Midas' Goldfinger berührt worden. Eine hauchzarte Schicht von von Sonnenlicht, welches wie Pulver auf den gewaltigen Massen lag. Ein Weg bahnte sich hindurch, auf dem eine einzelne Gestalt entlanglief. Die Zeit war ungünstig, und das wusste sie auch. Aber sie machte dies bewusst. Ein weißes Kleid, schwarze Locken und Lippen, die sich zu einem Lächeln verzogen.

Ich schloss die Tür des Elysia hinter mir und ließ den Blick nicht von ihr. Barfuß lief ich über die kitzelnden Wolken, mein Blick stets geradeaus gerichtet.
»Iduna«, sagte ich, als sie vor mir stand. Einer ihrer Mundwinkel hob sich an. »Althea«, entgegnete sie im selben Tonfall. Heute schien sie weniger traurig. Einzig allein die Schatten unter ihren Augen verrieten, wie sie sich das letzte Mal gefühlt hatte.

»Ich dachte«, fuhr Iduna sofort weiter, »wir könnten vielleicht etwas spazieren gehen. Wunderschönes Wetter heute.«

Ich warf einen Blick über meine Schulter. Auf dem Eingangstor zum Elysia stand nach wie vor »geschlossen«. Die Fensterläden zu Enyas und Lians Zimmern waren zu, was bedeuten musste, dass sie sich noch ausruhten. Enya würde heute sowieso nur dabei sein, neue Rezepte zu erfinden, und Lian würde ausschlafen. Es sprach nichts gegen einen Spaziergang.

Ich drehte mich wieder um. Iduna blickte mich abwartend an. Es war okay, wenn ich ging. Schließlich war es meine Aufgabe, ihr zu helfen. Also nickte ich in Richtung des Weges, aus dem Iduna gekommen war. Die Wolken waren schön zu einem Fußweg plattgedrückt. »Gehen wir dort entlang.«

Langsam liefen wir über die nasse Landschaft. Neben uns ragten andere Wolken wie Mauern empor. Sie waren immer noch vergoldet, was sie umso mehr majestätisch wirken ließ.

»Also.« Iduna fuhr mit den Fingern durch die Wolken neben sich. »Hast du einen Lieblingsort?«

»Nicht wirklich«, gab ich zu, überrascht über die Frage, »aber ich denke, dass es hier sehr schön ist. Was ist mit dir?«

»Nein, ich auch nicht wirklich«, erwiderte Iduna. »Aber hier ist es auf jeden Fall wunderschön.« Sie zögerte kurz. »Gibt es hier nur endlos Wolken? Oder ist es so, dass wenn wir immer weiter laufen würden, wir irgendwann bei einem anderen Planeten ankommen würden?« Iduna biss sich nachdenklich auf die Unterlippe, den Blick an den Horizont gerichtet. »Oder liegt dieser Ort parallel zur Erde und den anderen Planten?«

Ich musste lachen. »Darauf habe ich leider keine Antwort. Aber glaub mir, ich denke oft genug darüber nach.« Ich wagte mich nicht zu weit vom Elysia weg, in der Angst, ich würde sie nicht wiederfinden. Wohin würde ich gelangen, würde ich einfach immer weiter laufen? Wäre ich verloren zwischen Wolken und Himmel? Oder würde ich einen anderen Ort im Dazwischen erreichen? Das könnte möglich sein.

»Kann ich mir vorstellen. Hier hast du bestimmt sehr viel Zeit, nachzudenken.« Ich nickte wortlos zur Antwort, während ich mich fragte, wohin dieses Gespräch wohl führen würde.

Die Wolken unter mir wurden weicher und auf einmal sank ich tiefer ein. Wenn ich mich nicht täuschte, waren auch die Temperaturen leicht gesunken. Automatisch blieb ich stehen, und Iduna tat es mir gleich. »Andere Richtung?«, schlug sie vor.

Vorerst antwortete ich nicht. Der Weg war fertig - er mündete in eine unendlich scheinende Wolkenlandschaft. Ich sog die Aussicht mit meinen Augen auf, in der Hoffnung, ihn nicht zu vergessen. Die einzelnen Wolken waren so dünn, dass sie wie Nebel aussahen. Sie wurden von Sonnenlicht beschienen, was sie wie aus Gold geflochten aussehen ließ. Iduna neben mir stieß ein leises »Oh« aus, als hätte sie erst jetzt bemerkt, wo wir uns befanden.

»Hier ist es wirklich schön«, bekräftigte ich meine vorherige Aussage. Ich bückte mich, um die hauchzarten Wolken zu berühren. Sie rannen wie Wasser zwischen meinen Fingern hindurch. »Bleiben wir noch etwas?«

The Café between the starsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt