Eine der Lieblingssagen der Japaner berichtet von einer lustigen theatralischen Aufführung in den Gefilden des Himmels, und keine geringere als Amaterasu selber war es, die – freilich sehr gegen ihre Absicht – die Veranlassung dazu gab. Die Sache, so erzählt man, trug sich folgendermaßen zu.
Als Sosanoo, der griesgrämige Gott, der später die Unterwelt beherrschen sollte, in Folge der Erlaubniß seines Vaters Isanagi vorher noch seine Schwester Amaterasu im Himmel besuchte, war diese bei seinem Anblicke sehr erschrocken. Sie kannte nur zu gut seine wilde Gemüthsart und war von Sorge erfüllt, daß er gekommen sei, ihr die Herrschaft zu entreißen. Daher rüstete sie sich zum Kampf und trat ihm muthig entgegen.
Sosanoo aber hatte augenblicklich durchaus keine bösen Absichten und kam zu seiner Schwester, der er aufrichtig zugethan war, mit der friedlichsten Gesinnung. Er versicherte ihr dies auch aufs feierlichste, doch Amaterasu mißtraute ihm und verlangte Beweise seiner Friedfertigkeit. »Nun wohl,« sprach er, »so will ich augenblicklich aus den Edelsteinen deines Halsbandes Götter schaffen; sind es Weiber, so halte mich für schuldig, sind es aber Männer, so glaube mir und laß mich bei dir weilen!« Amaterasu war es zufrieden, doch wollte sie nicht minder ihre göttliche Macht beweisen, und deßhalb sprach sie: »Gieb mir dein Schwert!« Und als es Sosanoo ihr reichte, biß sie die Spitze davon ab, spie sie aus und hauchte in die Luft. Da entstanden drei liebliche Göttinnen, welche Amaterasu als Gottheiten der Flur auf die Insel Kiuschiu versetzte. Sosanoo sah das und lobte seine Schwester, doch alsobald nahm er die Schnur der Edelsteine zur Hand und biß von den einzelnen Steinen etwas ab, und wie er die Stückchen mit seinem Athem vermischt aushauchte, da entstanden zu Amaterasu's großer Freude fünf herrliche Götter. Alle erklärte Amaterasu für ihre Söhne, da sie doch aus ihren Edelsteinen entstanden waren. Dem ältesten gab sie den Namen Oschihomi, dem zweiten den Namen Amenohohi; beide wurden nachmals hoch angesehen unter den Göttern, doch auch die anderen drei hielt Amaterasu als Kinder hoch in Ehren. Als nun Amaterasu den schlagenden Beweis dafür hatte, daß ihr Bruder Sosanoo Frieden mit ihr halten wollte, war sie beruhigt und bestellte mit ihm in Freude und Eintracht die Reisfelder des Himmels. Allein lange währte dies Glück nun doch nicht, denn Sosanoo konnte sein zänkisches Gemüth nicht verleugnen. Er wurde neidisch auf Amaterasu, weil ihre Felder, mochten sie liegen, wo sie wollten, auf der Höhe, in der Ebene, an den Flüssen oder nahe beim Palaste, immer überschwengliche Ernte brachten, während seine Felder bei anhaltendem Regen überschwemmt wurden und bei eintretender Dürre vertrockneten. Nun begann er allerhand tückische Streiche auszuüben, welche er ersann, um seine Schwester zu kränken. Er zerstörte muthwillig die Röhrenleitungen der Wasseranlagen, er verstopfte die Gräben und verrückte die Grenzen der Reisfelder der Amaterasu. Und nicht genug des Uebermuthes; er trieb im Herbste seine Pferde in die Felder, welche die köstliche Frucht abweideten. Alles dies aber verzieh ihm die gütige Göttin, seine Schwester, und hielt den Frieden aufrecht. Als er aber seine Tücke so weit trieb und ihren Palast besudelte, wodurch er sie zu Spott und Hohn brachte, als er endlich, damit noch nicht zufrieden, das herrliche gestreifte Füllen des Himmels, den Liebling aller Himmelsgötter, einfing, ihm unbarmherzig die Haut abzog und den Leichnam gerade in dem Augenblick in Amaterasu's Palast warf, als dieselbe die heilige Ceremonie des Fastens durchmachte, da verlor die Göttliche ihre langbewahrte Geduld. Still und emsig saß sie am Webestuhl, als der verunstaltete Kadaver durch ein Loch im Dache, das Sosanoo zu diesem Zwecke gemacht hatte, vor ihren Augen niederfiel. Sie erschrak darob so gewaltig, daß sie sich mit dem Webschiffchen, das sie in der Hand hatte, empfindlich verletzte. Tief gekränkt stand sie auf und begab sich ohne weiteres in die tiefe Felsenhöhle des Himmels, deren Thor sie fest hinter sich verschloß. Nun war freilich guter Rath theuer, denn überall herrschte mit einem Male tiefe, schwarze Finsterniß; es gab keinen Unterschied mehr zwischen Tag und Nacht, böse Geister schwirrten unablässig umher, Himmel und Erde waren gleichmäßig in Dunkel gehüllt.