~1~ Blut

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Skye

Jemand rüttelte an meiner Schulter. „Skye, aufstehen!", flüsterte eine süße Mädchenstimme. Unwillkürlich musste ich lächeln.
Ich lag mit dem Rücken zu ihr, also würde ich ihr einen kleinen Streich spielen können. „Skye!", sie wurde ungeduldig. Wieder musste ich lächeln. Sie war definitiv nicht der geduldigste Mensch. „Sk..."
Mit einem Ruck drehte ich mich um und zog meine kleine Schwester unter meine Bettdecke.
Erschrocken quietschte sie und wand sich in meinem Griff.
Lachend fing ich an sie zu kitzeln, woraufhin sie nur noch mehr quietschte und noch stärker versuchte, sich zu befreien.
„Ky!", japste sie.
„Yara!", machte ich sie nach.
Empört strampelte sie noch etwas heftiger und schaffte es schließlich sich meinem Griff zu entwinden.
Mit zerzausten Haaren und geröteten Wangen sah sie zu süß aus.
Sie versuchte ihre schwarzen Locken zu bändigen, was ihr aber gründlich misslang. Ich lachte. Böse schaute sie mich aus ihren eisblauen Augen an und zog die Augenbrauen zusammen.
Sie war schon sehr hübsch für ihr Alter, befand ich. Sie war erst vierzehn Jahre alt, doch bei ihr zeigte sich die Pubertät nicht in Form von Pickeln, sondern durch Kurven. Der Fluch aller Jugendlichen hatte sie begnadigt.
Mir ging es da ähnlich, wie ihr, also der Teil mit den Pickeln. Ich bin schon so gut wie raus aus der Pubertät. Zum Glück. Mit meinen siebzehn Jahren war es nicht untypisch, wenn man da noch mittendrin war.

Ächzend erhob ich mich aus dem knarzenden Bett. Ich streckte mich ausgiebig und rieb mir die Augen.
Das kleine Zimmer, in dem ich stand, teilte ich mir mit meiner Schwester Yara.
Ihr Bett stand an der gegenüberligenden Wand und zwischen unseren Betten hatte gerademal eine kleine Kommode Platz, in der wir all unsere Habseligkeiten aufbewahrten und das wenige Geld, das uns geblieben war und uns durch kleine Jobs verdienten, war dort ebenfalls untergebracht.

Wir lebten seit sechs Jahren in diesem Waisenhaus. Unser Vater ist bei einem Waldbrand, in dem er als Holzfäller gearbeitet hatte, umgekommen. Unsere Mutter hat sich überarbeitet und ist irgendwann einfach verschwunden. Ich persönlich vermutete, dass sie entweder tot oder versklavt worden war.
Sklaverei war zwar illegal, wurde hier, in unserer heruntergekommenen Stadt, aber leider trotzdem betrieben.

Yara stand inzwischen vor dem Spiegel, welcher das einzige schöne Möbelstück in diesem Raum war. Er hing direkt hinter der Tür. Er war mindestens so groß wie ich und ich war stolze ein Meter achtundsechzig groß.

Ich bückte mich und zog die obere der beiden Schubladen auf. Es quietschte und knarrte zwar ein wenig, aber ich bekam sie auf. Das war doch schonmal ein Anfang. Jetzt musste ich mir nur noch Anziehsachen heraussuchen. Mpf. Das wird ja lustig, in diesem Chaos hier!
Ich kramte ein wenig in dem Fach  herum bis ich Unterwäsche, eine schwarze kurze Hose und ein knappes lockeres bordeauxfarbenes Top beisammen hatte.
Schnell schlüpfte ich in die Klamotten und stellte mich vor den Spiegel.

Yara hatte das Zimmer inzwischen verlassen. Vermutlich war sie hinunter in den Essenssaal gegangen.

Unzufrieden strich ich mir über meine schwarzen Haare. Sie waren leicht gewellt und hatten eine recht angenehme Dicke, aber im Sommer war es mir mit taillenlangen Haaren einfach zu warm.
Also borgte ich mir die Bürste meiner Schwester, da meine irgendwo in den Tiefen der Kommode verbuddelt war.
Ich bürstete mir meine Haare zurück und band sie mir zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen.
Schon besser.

Zufrieden zuppelte ich mir mein Top zurecht und wollte gerade herunter in den Essenssaal gehen, als die Tür aufgestoßen wurde und mit voller Wucht gegen mein rechtes Knie krachte.
Ich biss die Zähne zusammen, um einen Aufschrei zu unterdrücken, was mir aber nicht ganz gelang.
Ich knickte ein und versuchte mich an der Tür festzuhalten. Und so hing ich da, ein überraschter und besorgter Blick klebte an mir. Ich sah hoch und bemerkte, dass Nela die Übeltäterin war.
Groß gewachsen, schulterlange blonde Haare, blaue Augen, sehr dünn, beste Freundin von Yara, analysierte meine innere Stimme. Laut.
Dankeschön sehr lieb von dir. Geht's beim nächsten Mal auch leiser?, antwortete ich, da meine innere Stimme scheinbar denkt, ich wäre taub.
Nein, trällerte sie fröhlich. In der selben Lautstärke.
Innerlich knirschte ich mit den Zähnen.
Wenn du mich noch einmal so anbrüllst, gibt's was auf die Mütze, Getrude!, fauchte ich sie an. In meinem Kopf. Und ja, ich hatte meine innere Stimme Gertrude getauft. Hoffentlich machte sie das sprachlos, dann wäre es endlich mal leise.
Langsam fragte ich mich, ob ich mir nicht noch mehr, als nur mein Knie angestoßen hatte.
Nein, hast du nicht, du warst schon immer so verrückt!, gackerte Gertrude drauf los. Laut.
Mpf. Das kann ja was werden.

Gegen das System (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt