~8~ Countdown

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Skye

Die Wand, die den Fenstern gegenüber lag, teilte sich in der Mitte und die Sonne blendete jeden in der Halle. Etliche Hände wurden hochgehoben, um die Augen vor dem grellen Licht abzuschirmen. Meine Augen gewöhnten sich schnell an die Helligkeit und ich fing an, mich durch die Masse nach vorne durchzukämpfen. Ein paar Beleidigungen flogen mir hinterher, weil sie einen meiner sehr effektiven Ellenbogen in die Rippen bekamen oder vorzugsweise auch einfach nur über den Haufen gerannt wurden. Mittlerweile hatte ich den Ausgang erreicht. Noch ein Schritt und ich war draußen. Doch was mich stocken ließ, war die Lage des Flugschiffes. Wir befanden uns geschätzte siebzig Meter über dem Meer auf einem kahlen Felsen. Einzig zehn metallene Stangen ragten nahe am Abhang aus dem Boden. Ein langes Drahtseil war daran befestigt und das Ende verlor sich im Nebel, der nur die Umrisse einer Stadt erahnen ließ.

Einige Kämpfer traten hinaus und forderten uns auf, ihnen zu folgen. Mein Blick schweifte über die Menge auf der Suche nach Luces oder den anderen Jungen, doch glücklicherweise schienen sie nicht in der Nähe zu sein.
Schnell folgte ich den ersten mutigen Teilnehmern, um mich zu einer rothaarigen Kämpferin weiter links zu stellen. Diese machte etwas dunkel Glänzendes an dem Drahtseil fest und wies mich an, meine Hände in die beiden Löcher, die sich in dem Gerät über meinem Kopf befanden, zu stecken. Zögerlich befolgte ich die Anweisung. In dem Teil fand ich auf beiden Seiten jeweils einen Griff, den ich sofort fest umschloss.

„Wenn das Lämpchen hier grün leuchtet, hast du maximal fünf Sekunden, um loszulassen. Lässt du nicht los, wirst du auf den Steinen drüben zermatschen." Die Kämpferin deutete auf ein Lämpchen vor meiner Stirn, das im Moment noch rot leuchtete. Die Worte der Rothaarigen machten mich unglaublich nervös, sodass meine Hände schwitzig wurden.
„Was ist, wenn ich zu früh loslasse?"
„Wenn du auf der Wasseroberfläche aufkommst, ohne dass dir sämtliche Knochen brechen, werden dich die Mutanten zerfleischen."
Sehr aufmunternd. Wirklich. Danke. Das Blut, das in meinem Gesicht gerade fehlte, wurde bestimmt woanders gut gebraucht.

Fünf Sekunden, die über dein Leben entscheiden.
Habe ich mitbekommen, vielen Dank.
Ich wollte dich nur noch einmal darauf hinweisen, du warst gerade dabei, es zu verdrängen.
Ach, wirklich! Sehr freundlich, dass du mich nochmal daran erinnerst.
Mache ich immer wieder gerne. Aber bitte gib dir Mühe nicht zu sterben, ich hab noch so viele tolle Sprüche auf Lager, die ich bis jetzt noch nicht loswerden konnte. Also bitte stirb nicht.
Ich werde es versuchen, aber ganz bestimmt nicht, weil ich DIR einen Gefallen tun will. Ich mache das für Yara.
Soll mir Recht sein, viel Spaß bei deinem Höllenflug.

„Fünf.", der Countdown für die ersten Teilnehmer startete.
„Vier.", die Kämpferin schob mich an den Abgrund.
„Drei.", mein Herz hämmerte viel zu schnell.
„Zwei.", meine Hände verkrampften sich um die Griffe.
„Eins.", ich spürte einen Stoß in meinem Rücken und der Fels verschwand unter meinen Füßen.

~•~

Luces

Wo war dieses kleine Miststück nur?
Grob zog ich Kyle am Oberarm hinter mir her, während ich nach einer schwarzen Mähne Ausschau hielt.
Wo hat sich meine Sklavin nur versteckt?
Mein Blick glitt über zwei Jungen hinweg, die auf mich zukamen, aber meine Aufmerksamkeit nicht weiter erregten.

„Luces!"
Verwirrt schaute ich in die Richtung der beiden Jungen und erkannte, dass es sich hierbei um Hugh und Dean handelte.
„Habt ihr Skye gesehen?", knurrte ich ihnen unfreundlich entgegen.
Beide schüttelten stumm den Kopf.
Plötzlich trat auch Ethan zu uns.
„Seht.", sagte er schlicht und deutete nach draußen. Mein Blick glitt über die Menschen, die neben den Pfählen standen und blieben beim vorletzten Pärchen hängen. Es handelte sich um eine Rothaarige und ein Mädchen mit unverkennbar schwarzen Locken.
„Fünf." Ein Countdown startete, aber wofür?
Ärgerlich stürzte ich Richtung Ausgang und zerrte Kyle hinter mir her.
„Vier." Ich kam Skye immer näher und mittlerweile konnte ich auch erkennen, was sie dort vorne tat.
„Drei." Ich wurde unglaublich wütend und schubste die Leute rücksichtslos bei Seite, um schneller vordringen zu können.
„Zwei." Ich ließ Kyle los und sprintete die letzten Meter.
„Eins." Ich griff nach Skye, doch meine Hand ging ins Leere.

~•~

Servan

Fast drei Tage war Skye jetzt schon wie vom Erdboden verschluckt.
Yara konnte vor lauter Sorge und Unruhe nicht mehr richtig schlafen.
Noch dazu war mir eine weitere Sache aufgefallen, doch ich wusste nicht, ob es mich beunruhigen oder freuen sollte. Luces und seine komplette Truppe waren mitsamt meinem Bruder und vermutlich auch Skye verschwunden.

„Servan, es gibt Essen.", vernahm ich die schwache Stimme von Yara. Mit einem knappen Nicken stand ich auf und folgte ihr in den Essenssaal.
Dort angekommen ließ ich mir etwas vom Kartoffelbrei und einer undefinierbaren Pampe auftun. Mit dem Teller und einem Glas Apfelschorle setzte ich mich an einen Tisch in der Ecke.
Ich merkte, wie Yara sich fast lautlos neben mir niederließ.
Schweigend aß ich, während Skyes Schwester nur auf ihrem Teller herumstocherte.
Ich wusste, dass sie keinen Appetit hatte, die Angst drückte ihr viel zu sehr auf den Magen. Kyle hatte sie verletzt, keine Frage. Sie hat ihn aus tiefstem Herzen geliebt, vielleicht tat sie das immer noch.
Dass die einzige Person, die ihr aus der Familie geblieben war, seit Tagen unauffindbar war, verbesserte die Situation nicht unbedingt.

Auf einmal wurde es still im Saal. Ich blickte auf und sah, dass der Bildschirm, auf dem uns an den Filmabenden die Filme gezeigt wurden, flackerte.

„Das ist das Spiel.", ertönte eine Computerstimme. Bilder einer modern aussehenden Stadt erschienen. Kurz wurde der Bildschirm schwarz, doch schon nach kurzer Zeit lief das Video wieder. Die Ausschnitte waren von Überwachungskameras.
Man sah eine Gruppe, die gegen eine andere kämpfte.
Dann sah man einen jungen Mann, der ein Haus betrat. Die Kameraperspektive wechselte nach innen und man sah, dass die Haare des Mannes länger wurden, ihm ein Bart wuchs und er Falten im Gesicht bekam. Seine Haltung wurde krummer. Der Mann erschreckte sich und humpelte wieder in Richtung Ausgang.
Ähnliche Szenen wurden gezeigt. In manchen wurden die Menschen jünger, in manchen älter.
„Es ist kein Spiel. Es ist für die Teilnehmer ein Kampf gegen die Zeit und für den werten Herr, der das wunderbare System unserer Gesellschaft eingeführt hat, ist es nichts weiter als ein", die Verbindung wurde erneut unterbrochen. Alle im Raum waren geschockt und starrten wie hypnotisiert auf die Leinwand. Zeitgleich mit neuen Bildern, die sich mir ins Gehirn brannten, wurde der Satz beendet:„ ... nichts weiter als ein - Experiment."
In der letzten Szene sah man das Flugschiff, das wöchentlich die neuen Teilnehmer abholte. Es stand auf einem kahlen Felsen weit über dem Meer.
Am Abgrund standen Metallstangen von denen Drahtseile wegführten.
Jeweils ein Kämpfer und ein Teilnehmer standen an einer dieser Stangen. Es wurde auf das vorderste Pärchen gezoomt. Dann auf das nächste. Man konnte erkennen, das die Kämpfer die Teilnehmer in etwas einwiesen.
Zwei weitere Paare konnte man bei den Vorbereitungen zusehen.
Das Bild flackerte.
Eine Teilnehmerin stand, mit den Händen über ihrem Kopf in einem Gerät steckend, welches am Drahtseil befestigt war, dicht an der Kante.
Wieder flackerte das Bild.
„Fünf.", es startete ein Countdown. Vermutlich für den Absprung der Teilnehmer.
Mit der nächsten Zahl wechselte das Pärchen.
Der Bildschirm wurde kurz schwarz.
„Drei." Der Junge, der nah am Abgrund stand, sah unheimlich blass aus.
„Zwei." Eine Kämpferin mit leuchtend roten Haaren stand neben einem hübschen Mädchen mit schwarzen Locken.
Die Kamera zoomte an das Gesicht der Teilnehmerin.
Neben mir gab Yara einen spitzen Schrei von sich und ich selbst konnte mir ein geschocktes Keuchen nicht verkneifen.
Mit großen Augen starrte ich Skye an.
Plötzlich stürzte ein wütender Luces ins Bild, doch mit der finalen Durchsage „Eins." Wechselte das Bild und man sah ein blondes Mädchen springen.
Allerdings hatte ich nur noch Skyes entschlossenen und gleichzeitig angsterfüllten Blick vor Augen.
Skye nimmt am Spiel Teil. Luces ist auch da. Der Rest seiner Truppe wahrscheinlich auch. Mit Kyle.
Trotz dessen, dass ich unheimlich enttäuscht und wütend auf Kyle war, liebte ich ihn und machte mir Sorgen um ihn, er war schließlich mein kleiner Bruder.

~•~

Die Bilder wollten mir auch spät Abends nicht aus dem Kopf gehen. Ich hörte immer wieder die Zahlen, sah immer wieder die Teilnehmer, die kurz vor dem Sprung waren. Sah immer wieder Skyes Gesicht, hörte immer wieder den ... Countdown.

~*~

Hiermit ein RIESIGES Lob und DANKE für das geile Cover AlaAbendstern !❤️

Puderzuckersüße Liebe❤️ -Catty

Gegen das System (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt