Kapitel 1 - Montag, 16. Januar 2023

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Es ist schon eine ganze Weile her, seit Oliver und ich wirklich miteinander zu tun hatten. Zwar gab es durchaus eine Art obligatorischen Kontakt, doch war das von Anfang an nie sonderlich einfach.

Uns beiden fiel es schwer, die Uhrzeiten bei dem jeweils anderen zu berücksichtigen und bisweilen fingen wir an, uns in die Haare zu bekommen, weil man doch dringend eine Antwort erbeten hatte. Es war nie etwas lebenswichtiges, sondern schlichte Kleinigkeiten. Eine Hommage an alte Zeiten, die man in den kleinen Textnachrichten einbauen wollte, nur um dann feststellen zu müssen, dass man selbst auf diesem „Echtzeit-Weg" nicht mehr haben konnte, was früher selbstverständlich war.

Ich denke, dass uns das beiden irgendwie ein wenig zugesetzt hat.

Oder zumindest rede ich mir das gerne ein, weil es einfacher ist, als mit der Überzeugung zu leben, dass er das einfach abgeschüttelt hat. So wie er jedes Problem und jeden Ärger immer so wunderbar einfach abschüttelt und sich stattdessen lieber mit der Zukunft befasst.

Noch eine Sache mehr, für die ich ihn manchmal voll des Neids anschreien wollte, auch wenn es müßig gewesen wäre. Mit ihm zu streiten war sowieso ein Ding der Unmöglichkeit, nachdem seine Rhetorik der meinen um Längen überlegen war, sodass ich es zumeist bevorzugte, mich einfach geschlagen zu geben.

Schlussendlich war ich zur Zeit unseres Kennenlernens schlicht zu stolz darauf, mit ihm befreundet zu sein, als dass ich das riskiert hätte, um hinter meinen Idealen zu stehen und sie zu verteidigen. Das kam erst viel später. Zu einem Zeitpunkt, an dem bereits klar war, dass wir nicht nur befreundet waren, weil es bequem war, sondern weil wir einander das geben konnten, was wir zu vermissen schienen.

Er gab mir die Familie, die mir die meiste Zeit des Jahres fehlte, und ich gab ihm ein wenig Distanz von seiner perfekten Welt, wenn er Spannung und Nervenkitzel brauchte.

In Anbetracht dessen, dass wir als Team eine perfekte Symbiose bildeten, war ich etwas erstaunt, als er beschloss, dass ihm unser Kontakt auf dem heutzutage üblichen, auf dem direkten und einfachen Weg nicht mehr recht zusagte.

Er wollte von Handys und sozialen Medien wieder zu Füllfeder und Papier übergehen. Zu händisch verfassten Briefen, die wir uns zukommen ließen und dabei unweigerlich wussten, dass wir keine unmittelbare Reaktion zu erwarten hatten.

Er erklärte, dass dies unsere beste Möglichkeit wäre, um weitere Auseinandersetzungen zu vermeiden und uns dennoch das Besondere an unserer Freundschaft zu erhalten.

So skeptisch ich zunächst auch war, am Schluss stimmte ich seinem merkwürdigen Vorschlag zu und begann damit, Briefe zu verfassen, statt ihn mit Kurznachrichten ohne Inhalt zu bombardieren. Es schien so, als würde sein Lösungsansatz tatsächlich helfen – wie so oft – bis bei mir durch einige private Krisen die Zeit immer knapper wurde, und ich immer seltener den Füller zur Hand nahm, um ein paar Zeilen zu schreiben. Bisweilen brauchte es zwei oder drei Briefe von seiner Seite, bevor ich reagierte.

Entsprechend voll des Schuldgefühls war ich, als ich Tags zuvor erneut einen seiner Briefe aus dem Postkasten zog und mich daran erinnerte, dass noch vier unbeantwortete auf meinem Tisch lagen. Inzwischen waren sie schon eingestaubt und ich hatte sie im Alltagstrubel verdrängt. Dass sie da waren, wusste ich allerdings.

Genauso wie ich wusste, dass ich mir bei jedem einzelnen von ihnen dachte, dass ich unbedingt antworten muss, bevor mein Schweigen missinterpretiert werden würde. Getan habe ich es dennoch nicht. Bis heute nicht.

Bevor ich den neuen Brief überhaupt geöffnet hatte, hatte ich die vier Beweise meines freundschaftlichen Versagens unter dem Gerümpel auf meinem Schreibtisch hervor gekramt und mir noch einmal durchgelesen, was er dort schrieb. Auf Briefpapier mit seinen Initialen unter der Abbildung des Logos der Familienfirma, verfasst in einer Handschrift, die genauso gut gedruckt sein könnte, wenn man nicht den Verlauf der Tinte erkennen könnte. Kleine Momente, in denen er vor dem nächsten Buchstaben zögerte und damit dunklere Flecken erzeugte.

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