Eigentlich ist Maximilian Friedrich Baron von Piepstein kein sonderlich schöner Mann: Er ist nur knapp einssiebzig groß, hat ein fleischiges, etwas grobschlächtig geschnittenes Gesicht und einen wilden dunkelblonden Lockenkopf, in dem ebenso wie in seinem Bart bereits ein paar graue Strähnen zu erkennen waren. Aber der Baron versteht es, Menschen jedes Standes mit seinem Charme für sich einzunehmen und wirkt wesentlich jünger, als er tatsächlich ist.
Dadurch hat er bereits kurz, nachdem er endlich mit einem halben Tag Verspätung auf dem Kastellburger Schloss angekommen ist, dessen Bewohner für sich eingenommen. Das Personal liest dem „gnädigen Herren", der sie zum Lachen bringt und so tut, als gäbe es keine Standesschranken, jeden Wunsch von den Augen ab. Sogar Frau Schultze, die man so leicht nicht beeindrucken kann, meinte gestern Abend zu mir, dass er ein „gutherziger Mann" sei und „jede Frau sich glücklich schätzen kann, wenn sie so einen Mann abkriegt".
Nur mich, seine künftige Braut, hat der Baron bislang nicht zu beeindrucken vermocht.
Statt abzuwarten, bis mein Vater uns einander vorstellte, hat er, kaum dass er aus der Kutsche gestiegen ist und meine Eltern begrüßt hat, schon meine rechte Hand in seine große, etwas feuchte Hand genommen und sich galant vor mir verbeugt. „Das ist also Deine Tochter", stellte er fest und sprach zunächst mehr mit Papa als mit mir. „Nun, Sie sind ganz schön groß geworden." Er versuchte, mir zuzuzwinkern, was ich seltsam fand, weil er mich ja gar nicht kannte.
„Mögen Sie denn nur kleine Frauen?", fragte ich. Die Frage klang leicht schnippisch und rutschte mir mehr oder weniger raus. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte ich, dass Maman wenig erfreut die Augen verdrehte.
„Aber liebe Gräfin Sophia Anna...", begann der Baron und versuchte, über meinen Fauxpas zu lachen. Es gelang ihm aber nicht, einfach eine heitere Miene aufzusetzen, weil ich ihn sofort unterbrach.
„Man nennt mich Sophie."
„Liebe Gräfin Sophie", korrigierte er. „Wenn Sie einmal so alt wie ich sind, werden Sie längst bemerkt haben, dass äußerliche Werte wie Größe, Schönheit, Titel und Vermögen weniger wichtig sind als der Mensch selbst. Man muss immer auf den Menschen selbst schauen und seinen Charakter."
„Wenn das wirklich stimmen würde, hätten die meisten Debütantinnen, die entweder als besonders hübsch oder reich gelten, eine leere Tanzkarte. Ich nehme aber an, dass Sie in Ihrem langen Leben schon auf weitaus mehr Bällen waren als ich und das wissen." Ich wusste selbst nicht, warum ich mich so widerspenstig und abweisend gab. Gebildet wirkte ich dadurch gewiss nicht, sondern eher frech und blamierte obendrein meine Eltern. Maman, die direkt neben mir stand, hätte mich an diesem Punkt fast mit einem ihrer Pantoffel getreten, wenn ich meinen Fuß nicht weggezogen hätte.
Papa versuchte, die peinliche Szene schnell zu beenden, und trat näher an seinen alten Freund heran. „Lass uns ins Schloss gehen. Es ist hier draußen viel zu kalt, um sich zu unterhalten", schlug er vor.
„Aber ich habe den Jungen doch noch gar nicht begrüßt", wandte der Baron ein. „Sind Sie der junge Graf Philipp?"
Mein Bruder, der bislang ungewöhnlich ruhig geblieben war, schaute den Baron geradezu ehrfürchtig mit seinen großen blauen Augen an. Es kam selten vor, dass er von einem älteren Adligen gesiezt wurde, deshalb nickte er nur.
„Sie sind ungefähr so alt wie mein Mündel, die Tochter meiner unglücklichen Schwester. Ich denke, Sie beide würden Sich glänzend verstehen", meinte der Baron.
Philipp nickte noch mal.
Jetzt war ich es, die die Augen verdrehte. War es nicht genug, dass er hinter mir her war? Wollte er schon die nächste Ehe arrangieren?
DU LIEST GERADE
Sophies Tagebuch (ONC 2024)
Historical FictionVon Kindesbeinen an wurde der Geschichtslehrerin Anne erzählt, ihre Familie sei adligen Ursprungs. Beweise dafür gibt es allerdings nicht. Bis eines Tages ein mysteriöses Tagebuch auftaucht, das von der siebzehnjährigen Gräfin Sophie von Donnersberg...