28. Dezember 1738

13 2 10
                                    

Stündlich erwarten wir die Ankunft des Barons.

Es fällt mir immer noch schwer, meine Gedanken zu ordnen, während ich, in meinem besten Sonntagskleid herausgeputzt, in meinem Zimmer sitze und warte. Ich habe mir immer noch keine gute Strategie überlegt, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll. Wenn ich mich abweisend verhalte, werde ich gewiss den Zorn meiner Eltern auf mich ziehen. Außerdem würde ich riskieren, jemanden zu kränken, den ich gar nicht kenne und der sich dann doch noch als ein ganz lieber Mensch erweist.

Ach, könnte ich mich doch nur wenigstens aufs Bett werfen und weinen! Aber in meinem himmelblauen Kleid geht das nicht, da man jede Knitterfalte sehen und ich dann einen unordentlichen Eindruck machen würde.

Auch wenn ich eigentlich abgeneigt bin, den Plänen meines Vaters für meine Zukunft zu folgen, komme ich nicht umhin, mir Sorgen darüber zu machen, welch einen Eindruck ich auf den Besucher machen werde. Immerhin ist er ein erfahrener Mann, der mich für eine sehr dumme Gans halten könnte, weil meine Haltung nicht aufrecht genug ist trotz der zahllosen Stunden, die Maman und Frau Schultze mich die Bibel auf meinem Kopf haben balancieren lassen. Oder weil ich nicht gebildet genug bin: Meine Handschrift wird zwar allgemein als sehr schön und sauber beurteilt, aber mein Schreibstil ist der eines Mädchens vom Lande, das wenig gesehen hat von der Welt außerhalb von Zweibrücken, Saarbrücken und Homburg. Papa ist im letzten Sommer mit Philipp und mir nach Trier gefahren, damit wir uns dort die römischen Ruinen anschauen konnten (Philipps Interesse daran, Latein zu lernen, ist dadurch nicht besser geworden, und meine Lateinkenntnisse beschränken sich sogar nur auf das Aufsagen des auswendig gelernten „Pater noster"). Freilich kann ich ein wenig Französisch sprechen und einfache Lieder auf dem Klavier begleiten. Aber reicht das wirklich, um einen Mann wie den Baron von Piepstein zu beeindrucken?

Vielleicht sollte ich meine Fähigkeiten allerdings nicht allzu kleinreden. Heute morgen nach dem Frühstück habe ich immerhin einen Eindringling aus dem Lustgarten des Schlosses verjagt.

Folgendes ist passiert: Es liegt zwar immer noch Schnee, und die Temperaturen liegen vor allem morgens unter dem Gefrierpunkt, aber ich wollte unbedingt an die frische Luft.

Frau Schultze hielt das für keinen guten Einfall. „Sie werden sich nicht nur nasse Füße, sondern vielleicht sogar eine Erkältung oder Lungenentzündung holen!"

„Wir brauchen mindestens zwei Stunden, um Sie später zurechtzumachen. Also müssen Sie rechtzeitig zurück sein", warnte sogar Gretel. Als Zofe hatte sie wohl Angst, von Maman persönlich dafür verantwortlich gemacht zu werden, wenn ich nachher, wenn der Besucher aus seiner Kutsche steigen würde, nicht bei meinen Eltern stehen und ihn begrüßen würde.

„Ach was! Ihr macht euch zu viele Sorgen!", erwiderte ich nur und stampfte in meinen Lederstiefeln raus in den Schnee.

Natürlich blies mir zuerst ein eisiger Wind um die Nase, weshalb ich meine Augen unwillkürlich zukneifen musste. Seit der Frühmesse in der Schlosskirche, an der wir heute ausnahmsweise wegen der Ankunft des Barons teilgenommen hatten, war es, wie ich in diesem Moment feststellte, nicht wesentlich wärmer geworden. Als ich meine Augen wieder aufschlug, sah ich eine idyllische Winterlandschaft: Das Kastellburger Schloss liegt nämlich auf einem Plateau über der Stadt. Unmittelbar vor mir lag der Garten mit seinen im Sommer akkurat geschnittenen Büschen, über die im Winter jedoch die Natur wieder die Oberhand gewann, und den Kopien antiker Statuen, deren ehrenwerten Häupter im Winter schneebedeckt waren. Der große Seerosenteich, der den Mittelpunkt des Gartens bildete, war vollständig zugefroren. In der Ferne waren die schneebedeckten Dächer von Kastellaun zu erkennen, aus deren Schornsteinen weißer Rauch aufstieg.

Wann immer ich mich oben auf dem Schlossberg einsam fühlte, musste ich mich nur an die Gartenmauer lehnen und hinunterschauen. In der kleinen Stadt, in der rund 15 000 Untertanen von Papa lebten, war immer jemand auf den Straßen, auf den mein Blick fiel und dessen Gedanken ich zu erraten versuchte. Zum Beispiel die der Jungen in Philipps Alter, die in einer Gasse eine Schneeballschlacht veranstalteten. Sie schienen Spaß dabei zu haben, aber waren sie wirklich glücklich? Die alte, abgetragene Kleidung, die sie trugen, wies eher darauf hin, dass sie aus ärmlichen Familien kamen, kaum mehr besaßen als das, was sie am Leib trugen, möglicherweise in beengten, dunklen Kammern lebten und auf Strohbetten schliefen so wie Tiere. Vielleicht warfen sie auch nur deswegen Schneebälle aufeinander, weil sie kein anderes Spielzeug hatten. In einer anderen Gasse sah ich einen steinalten Mann am Krückstock gehen. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten und ging sehr vorsichtig Schritt für Schritt vorwärts, weil er vielleicht auch schon so gut wie blind war. Wie viel hatte er schon gesehen und erlebt, wie viel mehr gehört! Und trotzdem machte er nicht den Eindruck, als ob er sich je unterkriegen lassen würde und trotzdem weiterleben wollte. Plötzlich kreuzte sich sein Weg mit dem einer Frau, die einen Karren mit Brennholz durch die Gasse zog. Sie wirkte wie eine Mutter, die das Holz zum Heizen und Kochen brauchte und den schweren Karren dabei hatte, weil sie möglicherweise keinen Mann mehr hatte, der diese Arbeit für sie übernehmen konnte. Dennoch war dieser Mann, der Vater ihrer Kinder, ein Mann gewesen, den sie anders als ich wahrscheinlich hatte frei wählen können.

„Nicht viel los heute, oder?", fragte plötzlich jemand mit einer sehr tiefen Stimme hinter mir.

Überrascht, dass ich doch nicht so allein war, wie ich gedacht hatte, drehte ich mich um. In diesem Moment trat der schöne Fremde, der mir in Beerheim aus der Kutsche geholfen hatte, aus seinem Versteck, einem meterhohen Busch, hervor. Es irritierte mich, dass er sich überhaupt erdreistet hatte, mich zu beobachten, ohne sich bemerkbar zu machen, und das dann noch frech kommentierte.

„Was suchen Sie hier und wie sind Sie hierher gekommen?", fragte ich deshalb in einem Ton, der sich hoffentlich sehr selbstbewusst anhörte und so, wie die Tochter der regierenden Grafen mit einem Untertan sprechen sollte.

„Ich habe einen Sack mit Esskastanien vorbeigebracht. Die Familie des getöteten Jungen wollte sich bei Ihrer Familie für den Besuch bedanken. Und da ich noch nie im Schloss war, habe ich mir gedacht...", begann er.

„Dass Sie Sich einfach mal das Schloss ansehen können und wie die gräflichen Herrschaften hier leben?", unterbrach ich ihn.

„Ich habe mir also gedacht", fuhr er unbeirrt fort. „Dass ich durch die zweite Küchentür wieder in den Hof gelange. Dummerweise war das nicht der Fall. Ich hoffe, ich habe Sie nicht gestört." Auf seine Erklärung folgte ein Knicks, den er ausführte, ohne mich aus den Augen zu lassen.

„Wie heißen Sie?"

„Was hat das damit zu tun, dass ich mich verlaufen habe?"

„Ich habe den höheren gesellschaftlichen Rang und stelle die Fragen, nicht Sie", stellte ich klar. „Und ich möchte Ihren Namen wissen."

„Paul Bubel."

„Nun, Paul Bubel, ich nehme an, Sie haben Sich noch nicht oft vor einer Adligen verbeugt?", fragte ich und hoffte, dass der Ton meiner Stimme kühl und abweisend klang. Denn er sah mich nach wie vor mit seinen großen, himmelblauen Augen auf eine Weise an, die meine Knie weich werden ließ.

„Ich hatte noch nicht oft die Gelegenheit dazu."

„Nun, jedes andere adelige Fräulein würde Ihre Verbeugung als eine Unverschämtheit werten, so unbeholfen ist sie."

„Dann kann ich ja von Glück reden, dass Sie anderer Meinung sind."

„Ich weiß ja jetzt, was ich von Ihrem Verhalten halten soll." An diesem Punkt entschied ich, dass ich mich unmöglich täuschen konnte: Hinter seinem Verhalten mir gegenüber, der unangepassten Art und Weise, wie er mit mir sprach, und seinem durchdringenden Blick steckte eine Absicht. Genauso hielt ich es für unmöglich, dass er sich verlaufen hatte. Ich war oft genug davor gewarnt worden, gegenüber Leuten aus dem Volk nicht allzu vertrauensselig zu sein. Egal, ob dies aus Hunger, Verzweiflung oder Neid geschah oder weil die betreffende Person ohnehin einen schlechten Charakter hatte, neigten solche Menschen dazu, uns bei der erstbesten Gelegenheit zu bestehlen. Nachdem ich kurz innegehalten hatte, um mich zu sammeln, stellte ich schließlich fest: „Und ich denke, wir sind uns beide einig, dass Sie nicht hierher gehören. Der Hof, den Sie gesucht haben, befindet sich genau in der anderen Richtung. Und Sie brauchen mir gar nicht zu erzählen, dass Sie das angeblich nicht gemerkt haben."

Meine Äußerung irritierte ihn sichtlich. „Ich schwöre, dass es nicht meine Absicht war..."

„Wenn Sie noch länger hier stehenbleiben, riskieren Sie, dass Sie jemand sieht", unterbrach ich ihn erneut. „Dann wird man denken, dass Sie mich belästigen, und das würde gewiss nicht gut für Sie ausgehen!"

„Keine Sorge, ich gehe sofort", antwortete er und wollte sich schon in die Richtung aufmachen, aus der er ursprünglich gekommen war. Irgendetwas hielt ihn jedoch in diesem Moment davon ab. Statt sofort zu verschwinden, wandte er sich zum Abschied noch einmal in meine Richtung und meinte: „Es ist übrigens schade, dass Sie ein adliges Fräulein sind. Ihre Art gefällt mir sehr."

Er war schneller weg, als ich vermochte, mir eine geistreiche Bemerkung auszudenken, die ich gegen dieses zweifelhafte Kompliment vorbringen konnte. Obwohl er ein Mann niederen Standes war, der niemals als Ehemann für mich in Frage kommen würde, und es nichts an seinem bisherigen Verhalten mir gegenüber gab, was ich nicht hätte beanstanden können und müssen, faszinierte mich genau das an ihm. Allerdings vertraue ich dir das an, liebes Tagebuch, und werde nie jemandem gegenüber zugeben! Denn das würde sich nicht nur nicht schicken, sondern wäre auch höchst peinlich.

Daher hoffe ich, dass mich die Ankunft unseres Gastes auf andere Gedanken bringen wird.

(7751 Wörter)

Sophies Tagebuch (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt