Manchmal muss man einfach nur Glück haben, und dann verschwinden Probleme, die man vorher für schier unlösbar gehalten hat, einfach von selbst.
Anscheinend muss der Baron nun doch kurzfristig abreisen, weil es ein Problem bei ihm zu Hause gibt, das sein Verwalter nicht allein bewältigen kann. Angeblich sei dadurch, dass der Schnee in den ersten Tagen des neuen Jahres ein wenig zu schmelzen begonnen hat, ein Hochwasser entstanden. Nichts Dramatisches, aber durchaus ein Hochwasser, das man bekämpfen musste, um größere Schäden zu vermeiden.
„Aber du bist doch erst vor ein paar Tagen zu uns gekommen!", rief mein Vater enttäuscht aus, als Max von Piepstein ihm die Hiobsbotschaft mitteilte.
„Was soll ich dazu sagen? Es tut mir leid, ich würde wirklich gerne länger bei Euch bleiben", entgegnete der Baron. Allerdings hatte er sogleich eine Idee, die mir gar nicht gefiel: „Aber vielleicht kann ich im Frühjahr ja wiederkommen. Dann könnt Ihr mir auch Euer Lustschloss zeigen, und ich könnte meine Bekanntschaft mit der jungen Gräfin Sophie vertiefen."
Ich hätte fast „Bitte nicht! Bleiben Sie bitte dort, wo sie hingehören!" ausgerufen, aber Papa kam mir zuvor: „Das hört sich wirklich nach einer ausgezeichneten Idee an! Wir sollten es wirklich so machen!"
„Ja, und ich bin mir sicher, dass meine Tochter sich über Ihren erneuten Besuch sehr freuen wird", fügte Maman schnell hinzu und fasste mich bei der Hand.
„Tatsächlich?", fragte der Baron und musterte mich.
Irgendwie schaffte ich es, zu nicken und nicht die Augen zu verdrehen, weil ich eigentlich gehofft hatte, dass das Thema einer Verbindung zwischen mir und dem Baron sofort in Vergessenheit geraten würde, wenn er abgereist war, und ich mich deshalb insgeheim gefreut hatte, dass er bald weg war. Aber offensichtlich bestanden meine Eltern weiterhin darauf, dass ich Papas alten Freund ernsthaft als Heiratskandidaten in Erwägung zog. Deshalb konnte ich nur hoffen, dass er nach seiner Abreise irgendwo der wahren Liebe seines Lebens begegnen und sie sofort heiraten würde, damit mir eine Heirat mit ihm erspart blieb.
„Wenn ich weg bin, wirst du dann an mich denken?", fragte Anna Philipp, der wirklich traurig wirkte und sie gar nicht richtig anschauen wollte.
„Natürlich! Eigentlich vermisse ich dich jetzt schon. Es war nämlich sehr schön, mit dir zu spielen", antwortete mein Bruder.
Für ihn tat es mir leid, dass das kleine Mädchen mit dem Baron abreiste. Solange Anna um ihn herum gewesen war, war Philipp wie ausgewechselt gewesen: Viel lebhafter und vergnügter. Nun würde er sich wieder viel allein sein: Denn die Eltern seiner Mitschüler aus der Lateinschule waren doch sehr zögerlich, wenn es darum ging, ihre Söhne mit dem künftigen Grafen spielen zu lassen - und sogar bei den Dienstboten hatte ich, je älter mein Bruder wurde, Ähnliches beobachtet. Vielleicht konnte Maman sich auch endlich dazu durchringen, Papas Vorschlag zu folgen und Philipp in eine Klosterschule zu geben, wo er dann einen Großteil des Jahres unter Seinesgleichen sein konnte. Mamans Argument, dass ihr Sohn doch noch viel zu jung sei für so etwas, konnte man mittlerweile wirklich als absurd bezeichnen. „Wie lange soll er denn noch an deinem Rockzipfel hängen?", hatte Papa sie vor einigen Monaten einmal erbost gefragt.
Ich selbst war allerdings froh, dass Anna von Kalkheim abreiste. Seit meiner Unterhaltung mit Papa verstand ich besser, warum der ewige Junggesellen Max von Piepstein so versessen auf eine Heirat mit mir war: Er brauchte offenbar nicht nur einen Erben, sondern möglicherweise auch eine Ersatzmutter für seine Nichte, sofern ihr Vater sie nicht mehr bei sich haben wollte. Die Vorstellung, dass ich mich mit meinen 17 Jahren um ein Kind kümmern sollte, das so alt war wie mein Bruder, erschreckte mich durchaus.
Vor dem gestrigen Abendessen hat der Baron mich auf der großen Freitreppe des Schlosses angehalten. „Meine liebe Gräfin, ich hoffe, Sie sind mir nicht böse."
„Wieso sollte ich Ihnen böse sein?", fragte ich, obwohl ich ahnte, worauf er hinauswollte. Ehrlich gesagt, wollte ich in diesem Moment nur auf mein Zimmer gehen und mich für das Abendessen zurechtmachen.
„Ich habe das Gefühl, dass Sie mir seit unserem Gespräch an Silvester aus dem Weg gehen. Habe ich irgendetwas gesagt, was Ihre Gefühle verletzt hat?"
„Was haben Sie gesagt, was nicht verletzend war?", hätte ich daraufhin beinahe gefragt. Aber ich biss mir lieber auf die Lippe und gab nicht zu, dass ich ihm bewusst aus dem Weg ging, nachdem ich seinetwegen die Nerven verloren hatte. „Nein, das haben Sie nicht. Ich war halt noch nie in dieser Situation und weiß überhaupt nicht, was ich dazu sagen soll."
„Von welcher Situation reden Sie denn?"
„Ich habe noch nie jemanden getroffen, der mich heiraten wollte. Daher weiß ich nicht, was Sie von mir erwarten und wie ich mich verhalten soll." Das war tatsächlich die Wahrheit: Ich hatte noch nie ein Buch gelesen, in dem es darum ging, wie sich jemand verhielt, der heiraten wollte oder was das Wort „verliebt" bedeutete. Bisher habe ich immer gedacht, mein Instinkt würde mir zum rechten Zeitpunkt schon verraten, was „verliebt" bedeutet. Unter dem Wort, das man in so vielen Theaterstücken hört, kann ich mir nämlich nichts vorstellen.
Der Baron schwieg für einen Augenblick, um mir dann mit einer unglaublichen Lockerheit, die ich als unangemessen empfand, zu antworten: „Aha, ich verstehe. Sie haben Angst. Nun, wer hat die nicht, wenn es ums Heiraten geht? Ich würde sagen, vertrauen Sie mir und Ihren Eltern einfach. Wir sind schon eine Weile länger auf der Welt als Sie und können solche Dinge vielleicht auch besser beurteilen."
Wenn das nur so einfach wäre! Ich weiß, dass ich ihn wahrscheinlich nie wiedersehen werde, aber mir geht Paul Bubel und die Art und Weise, wie er mich angesehen hat, einfach nicht aus dem Kopf. So hat mich wirklich noch niemand angeschaut. Bilde ich mir das nur ein, oder ist es möglich, dass er in mich verliebt ist?
(16798 Wörter)
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Sophies Tagebuch (ONC 2024)
Historical FictionVon Kindesbeinen an wurde der Geschichtslehrerin Anne erzählt, ihre Familie sei adligen Ursprungs. Beweise dafür gibt es allerdings nicht. Bis eines Tages ein mysteriöses Tagebuch auftaucht, das von der siebzehnjährigen Gräfin Sophie von Donnersberg...