Die Ruinen der alten Mühle lagen gut einen Kilometer von Beerheim entfernt in der Nähe der Straße, die nach Saarbrücken führt. Allerdings ist das Wort „Straße" eigentlich der falsche Begriff für den staubigen Pfad, dessen Umgebung teilweise völlig überwuchert ist mit wild wachsenden und mittlerweile undurchdringlichen Sträuchern und Büschen. Dementsprechend sahen auch die Wiesen in diesem Gebiet aus, denn auch um ihre Pflege hat sich scheinbar seit vielen Jahren niemand mehr gekümmert.
Hier in diesem gottverlassenen Tal, inmitten eines Niemandslandes, scherte sich niemand um Titel und andere Befindlichkeiten. Paul hatte wirklich Wort gehalten und mich an einen besonderen Ort gebracht, an dem wir unter uns sein konnten und offen reden konnten! Allerdings bestand er noch immer darauf, dass ich mich unter der großen Wolldecke versteckte, die er über die Ladefläche seines Wagens ausgebreitet hat.
Während ich es noch verstehen konnte, mich unter der Decke zu verstecken, während Paul vorne auf dem Wagen saß und das Pferd über die holprigen Straßen der Dörfer lenkte, hörte mein Verständnis auf, sobald wir Beerheim hinter uns gelassen hatten. „Hier draußen ist doch niemand!", argumentierte ich, nachdem ich die Decke schon vorher ab und zu angehoben hatte, um ungefähr nachvollziehen zu können, wohin wir überhaupt fuhren.
„Das wissen mir nicht, und nur weil wir bislang so gut vorangekommen sind, sollten wir jetzt bloß nicht leichtsinnig werden!", warnte er mich schon, bevor wir überhaupt in die Nähe der Kirschmühle gelangt waren. Wenn wir das später nur berücksichtigt hätten, wäre der Tag vielleicht anders ausgegangen!
Jedenfalls bog er irgendwann von der Straße ab und gelangte in das Tal, in dem inmitten einer Wiese und direkt neben einem leise vor sich dahinplätschernden Bach eine Ruine stand.
„Sie können jetzt rauskommen!", meinte er, nachdem er den Wagen zum Stehen gebracht hatte.
Das tat ich auch. Neugierig entledigte ich mich der Decke und sah ich mich um. Dass es sich dabei um eine vor langer Zeit aufgegebene Mühle handelte, war anhand der noch zum Teil vorhandenen Reste des Mühlrads deutlich zu erkennen. Teile des Gebäudes standen noch, auch wenn dessen ursprünglich rotes Ziegeldach eingestürzt war. Herabgefallene, moosbedeckte Steinblöcke und Ziegel lagen teils in der Wiese verstreut, aber auch teils innerhalb der Ruine. An einem Teil der noch vorhandenen, jedoch auch völlig verwitterten Fassade befand sich ein Fensterrahmen aus Buntsandstein, in den jemand kunstvoll ein Datum eingemeißelt hatte: 1616.
„Ich nehme an, dass hier wohl schon länger niemand mehr gelebt hat?", fragte ich Paul und zeigte auf den Fensterrahmen.„Nein, diejenigen, die hier gelebt haben, sollen im Dreißigjährigen Krieg ebenso wie die Bewohner von Nußbach von umherstreifenden Soldaten grausam umgebracht worden sein", meinte er und zeigte auf eine Ruinenlandschaft auf einer nahen Anhöhe, die ich zuerst übersehen hatte, weil ich nur die blühenden Kirschbäume am Fuße des Hanges wahrgenommen hatte. Weil er bemerkte, dass ich nicht verstand, was er mit „Nußbach" meinte, ergänzte er: „Dort oben befand sich früher ein Dorf, das Nußbach hieß. Es wurde geplündert und angezündet wie so viele Orte damals. Aber während in Beerheim wenigstens einige Leute das Massaker überlebt haben, heißt es, dass Nußbach komplett ausgelöscht wurde, weil die Leute sich nicht so einfach ergeben wollten und die Soldaten bekämpften. Man sagt in Beerheim seither, dies sei ein verwunschener Ort, und deshalb wurde die Mühle auch nicht mehr aufgebaut."
„Und glauben Sie daran?", fragte ich, während er mir dabei half, aus dem Wagen zu steigen.
„An Zauberer, Hexen und Magie?", fragte er und schien sich über meine Frage sehr zu amüsieren. Denn er fing an zu grinsen: „Ich tue mir ja schon schwer genug damit, die bestehende Ordnung der Welt zu begreifen, und zu glauben, dass Gott das alles gewollt haben könnte! Dieser Ort hier war mein liebster Spielplatz, als ich klein war. Hier stört einen wirklich niemand."
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Sophies Tagebuch (ONC 2024)
Historical FictionVon Kindesbeinen an wurde der Geschichtslehrerin Anne erzählt, ihre Familie sei adligen Ursprungs. Beweise dafür gibt es allerdings nicht. Bis eines Tages ein mysteriöses Tagebuch auftaucht, das von der siebzehnjährigen Gräfin Sophie von Donnersberg...