Eigentlich hatte ich geglaubt, ich würde Dich nie wiedersehen, liebes Tagebuch. Und doch haben die Wirren der Gegenwart Dich, einen Gegenstand aus besseren, aber längst vergangenen Zeiten, zu mir zurückgebracht.
Wenn ich jetzt, am Ende meines langen Lebens angekommen, in deinen Seiten blättere, wundere ich mich über mich selbst: War ich wirklich jemals so jung? Manchmal kommt es mir so vor, als ob ich über das Leben einer Fremden lesen würde; und doch erkenne ich meine Schrift wieder und erinnere mich an manche Vorfälle, so als ob sie gestern passiert wären und nicht vor 55 Jahren.
Aber ich muss nur meine Hände betrachten und deren faltige, furchige Haut, um mich daran zu erinnern, dass ich längst kein 17-jähriges Mädchen mehr bin: Damals habe ich Handschuhe getragen, um meine feine Haut vor der Sonne zu schützen. In dem Moment, in dem ich Paul geheiratet habe, waren die Handschuhe das erste Kleidungsstück, das ich umständehalber abgelegt habe: Denn ich, die dazu nicht geboren worden war, musste plötzlich hart arbeiten und Arbeiten verrichten, auf die mich keiner vorbereitet hatte. „Hör auf, die feine Dame zu spielen, und pack lieber an! Sonst werden sie dich hier nie respektieren!", meinte sogar Paul zu mir, nachdem ich mich bei ihm über die komischen Blicke der Bauern beschwert hatte, die im Zuge ihres Frondienstes mehr oder weniger unfreiwillig dabei waren, die Kirschmühle zu errichten.
Heute weiß ich, dass ich mit meinem Sonnenschirm und den Handschuhen wie eine arrogante, blöde Ziege auf die einfachen Leute gewirkt haben muss. Obwohl ich durch meine Heirat eigentlich eine der ihren geworden war, gehörte ich gefühlt doch nicht zu ihnen. Und wenn ich ehrlich bin, gehöre ich selbst heute nach einem langen Leben voller harter Arbeit und Entbehrungen nicht richtig zu ihnen. Nur das ist freilich eine andere Geschichte.
Die Oberflächen meiner Hände sind schon seit Jahrzehnten rau und so hart, dass sie praktisch taub sind; es sind die Hände einer alten Müllersfrau, die in der Mühle ihres Mannes ebenso mitangepackt hat wie auf seinen Feldern und die sich darüber hinaus um den Haushalt, den Garten und die Kindererziehung gekümmert hat. All das musste ich tun, um zu überleben. An das Leben als Grafentochter, das ich vorher geführt habe und das ich weiter hätte führen können, wenn ich Paul aufgegeben hätte, habe ich dagegen schon sehr lange nicht mehr gedacht.
Bis vorgestern.
Die Kirschmühle liegt zwar außerhalb von Beerheim, aber halt nicht so abgelegen, dass man nicht mitbekommt, was in der Welt in den letzten vier Jahren passiert ist. Ich habe durchaus gehört, dass ausgerechnet in Frankreich ein großer Aufstand des Volkes, eine Revolution, stattgefunden hat und dass dort nicht nur Schlösser geplündert und in Brand gesteckt worden sind, sondern gerade auch zahllose Menschen zu Tode verurteilt und geköpft werden. Sogar der französische König Ludwig XVI. ist unter ihnen gewesen.
Bereits als die Revolution vor vier Jahren anfing, haben die Beerheimer Leute gegen ihre adelige Herrschaft aufbegehrt. Da Beerheim keinen Tagesritt von der französischen Grenze entfernt liegt, war das zwar zu erwarten. Trotzdem fand ich es schockierend, wie schnell es ging: Binnen weniger Wochen wollten auch die Beerheimer mehr Freiheiten und ein politisches System abschaffen, das mehrere Jahrhunderte alt war. Was die politischen Extremisten unter ihnen stattdessen wollen, ist unklar: Manche wollen eine Republik und sagen, dass die englischen Kolonien in Nordamerika sich ja auch zum Teil von England losgesagt haben und die Vereinigten Staaten von Amerika gegründet haben. „Warum wandern Sie dann nicht dorthin aus?" möchte ich jeden fragen, der dieses Argument vorbringt. Aber was weiß ich als Frau schon von der hohen Politik? Und bin ich nicht eine ehemalige Adelige und sowieso deswegen eine Außenseiterin, die von den Beerheimern ohnehin verdächtigt wird, immer noch Sympathien für ihre ehemalige Familie zu hegen? Ach, wenn die Leute nur endlich verstehen würde, dass ich mit meiner früheren Familie schon seit 1739 keinen Kontakt mehr gehabt habe, weil ich wegen meiner Heirat mit Paul wie eine Aussätzige behandelt werde!
Meine jetzige Familie fand es bislang auch gut, dass die Familie von Donnersberg quasi alle Brücken zu mir abgebrochen und mir nur die Kirschmühle geschenkt hat. Vor kurzem hat meine Tochter Marie, die Frau des derzeitigen Müllers der Kirschmühle, sogar zu mir gesagt: „Mama, du hast es richtig gemacht und rechtzeitig deine Familie rechtzeitig verlassen! Du kannst dir gar nicht vorstellen, was die Leute sich über die Grafenfamilie erzählen!"
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Sophies Tagebuch (ONC 2024)
Historical FictionVon Kindesbeinen an wurde der Geschichtslehrerin Anne erzählt, ihre Familie sei adligen Ursprungs. Beweise dafür gibt es allerdings nicht. Bis eines Tages ein mysteriöses Tagebuch auftaucht, das von der siebzehnjährigen Gräfin Sophie von Donnersberg...