31. Dezember 1738

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In wenigen Stunden wird ein neues Jahr beginnen, in dem sich mein Leben womöglich von Grund auf verändern wird. Denn wenn ich den Baron im nächsten Jahr tatsächlich heirate, werde ich meine Mädchenjahre hinter mir lassen und damit auch die Freiheit der Jugend, die ich jetzt noch habe, gegen die Rolle einer Ehefrau und Mutter eintauschen. Zudem wird man mich als Landesmutter und Schlossherrin betrachten, weshalb die Augen aller auf mich gerichtet sein werden und ich mir jeden Kommentar, den ich abgebe, und jede Handlung, ja, jedes Lachen ganz genau überlegen muss. Innerlich werde ich hoffentlich immer ich selbst bleiben, aber andere werden in mir ein Vorbild sehen und erwarten, dass ich weder mich noch meinen Mann blamiere. 

Vielleicht bin ich deshalb so niedergeschlagen und wünsche, dass das Jahr 1738 noch ein wenig länger dauern könnte.

Eigentlich liebe ich Silvester wegen der Bräuche und vor allem wegen dem großen Feuerwerk, das Papa immer auf dem Vorplatz des Schlosses veranstalten lässt. Es ist einer der Höhepunkte des Jahres, und die Bevölkerung liebt Papa dafür, dass er weder Kosten noch Mühen scheut und jedes Jahr wochenlang ein Feuerwerk plant, bei dem sich ganz Kastellburg auf den Straßen der Stadt versammeln und den Beginn des neuen Jahres zusammen einläuten kann. Da meine Eltern gerade fest entschlossen sind, sich als die perfekten Gastgeber zu präsentieren, fällt das Feuerwerk in diesem Jahr sogar noch etwas größer aus als sonst: Denn in den letzten Tagen hat mein Vater zusätzliche Κisten für das Feuerwerk herbeischaffen lassen. Papa möchte sich selbst übertreffen.

Heute habe ich mich nach dem Mittagessen auf mein Zimmer zurückgezogen, weil ich die heitere Stimmung im Salon nicht mehr ertragen konnte. Papa und sein alter Freund tun seit Tagen nichts anderes, als in Erinnerungen an ihre wilden Tage zu schwelgen, während mein Bruder anscheinend darüber hinwegsehen kann, dass Anna „nur" ein Mädchen ist. Ich verstehe es nicht: Philipp ist es noch nie leichtgefallen, sich mit einem anderen Kind anzufreunden. Und dann kommt dieses Mädchen aus dem Nicht daher, und die beiden sind schon nach wenigen Tagen unzertrennlich und spielen die ganze Zeit miteinander.

Frau Schultze ist meine Zurückhaltung in den letzten Tagen durchaus aufgefallen, weshalb sie an meiner Tür geklopft hat, kaum dass ich mich mit der Ausrede, ich wolle noch etwas schlafen, um später länger aufbleiben zu können, entschuldigt hatte. „Kann ich hereinkommen?"

„Natürlich."

Zu meiner Überraschung sagte sie nichts dazu, als sie mich nicht, wie erwartet, im Bett vorfand, sondern an meinem Schreibtisch. Auch die Tränen auf meinen Wangen ließ sie unkommentiert und schalt mich nicht dafür, dass die Leute später sehen würden, dass ich geweint hatte. „Wie lange kennen wir uns nun schon?", fragte sie stattdessen.

„Maman hat Sie eingestellt, als ich fünf Jahre alt war."

„Genau. Wissen Sie, was mein erster Eindruck von Ihnen war?"

„Vermutlich hielten Sie mich für einen kleinen Wildfang, der sich nie an Regeln hielt und nicht wusste, was sich für ein kleines Mädchen schickte."

„Das kommt ungefähr hin: Wann immer ich Sie suchte, musste ich davon ausgehen, dass sie wieder auf einen Baum geklettert waren. Verzeihen Sie mir, wenn ich so offen mit Ihnen bin..." Plötzlich hielt sie inne, und ich fragte mich schon, worauf sie hinauswollte, als sie fortfuhr. „Wir beide kennen uns schon sehr lange. Und doch wissen Sie sehr wenig über mich. Zum Beispiel wissen Sie nicht, warum ich mich damals bei Ihren Eltern gemeldet habe, um mich um Sie zu kümmern."

„Ich glaube, Sie haben mal erwähnt, dass Ihr Mann kurz zuvor gestorben ist und Ihnen nicht viel Vermögen hinterlassen hat."

„Weshalb ich eine Arbeit aufnehmen musste, wenn ich mit meinen knapp fünfundzwanzig Jahren nicht meine Familie um Geld anbetteln wollte", erinnerte Frau Schultze sich. Die abfällige Art und Weise, wie sie von ihrer Familie sprach, überraschte mich, zumal ich sie noch nie zuvor von ihrer Familie hatte sprechen hören. „Sie müssen wissen, dass ich noch keine zwei Jahre mit meinem Mann verheiratet war, als er sich eine schwere Grippe zugezogen hat und daran verstorben ist. Und weder seine noch meine Familie haben diese Verbindung gebilligt, weil er meinetwegen das Priesterkolleg abgebrochen hat."

Plötzlich begriff ich, was sie mir sagen wollte. „Das heißt, Sie verstehen meine Lage?"

„Bis zu einem gewissen Punkt kann ich Ihre Gedanken nachvollziehen. Allerdings möchte ich Sie davor warnen, wie viel Kraft es kostet, Sich der eigenen Familie zu widersetzen. Mir selbst war damals klar, dass ich nur diesen und keinen anderen Mann wollte und ich den Streit mit meiner Familie dafür in Kauf nahm. Aber Ihre Familie... Nun, Sie haben doch Eltern, die Sie bislang immer unterstützt haben und mit denen Sie offen reden können! Wenn Sie den Baron nicht heiraten wollen, sagen Sie es Ihnen offen."

„Glauben Sie mir, das habe ich von Anfang an versucht! Trotzdem zwingen Sie mich, den Baron zu heiraten!", entgegnete ich und war selbst über die Wut, die in mir in diesem Moment aufstieg, überrascht.

„Dann stellen Sie es ein wenig geschickter an: Was Ihre Eltern Ihnen vorwerfen, denke ich, ist, dass Sie den Baron abgelehnt haben, ohne ihm eine faire Chance zu geben. Denn er ist ein durchaus charmanter Mann, und Sie könnten eine viel schlechtere Partie machen... Warum tun Sie nicht so, als ob Sie ihn kennenlernen wollen?"

Entsetzt sprang ich auf. Wie konnte sie es wagen, so etwas auch nur vorzuschlagen? „Aber dann mache ich ihm und meinen Eltern doch falsche Hoffnungen!"

„Gleichzeitig schließen Sie aber aus, dass Sie Ihre Ablehnung nicht in fünf oder zehn Jahren bitter bereuen werden. Oder spätestens dann, wenn Ihre Eltern Sie verstoßen haben", stellte sie fest.

Obwohl ich ausrief, „Das wird sicherlich niemals passieren!", war ich mir da nicht mehr so sicher: Papa würde richtig sauer sein, wenn ich Max von Piepsteins Heiratsantrag ablehnte.

Da auch Frau Schultze diese Gefahr sah, fuhr sie unbeirrt fort: „Wenn Sie den Baron besser kennen, können Sie außerdem aus einer besseren Position heraus argumentieren, dass Sie ihn nicht heiraten wollen."

„Ich soll mich also in eines dieser Mädchen verwandeln, die den Männern schöne Augen machen, um sie nachher schroff zurückzuweisen? Ich dachte, Sie hätten mich besser erzogen!", merkte ich ironisch an, verstand aber ihren Vorschlag voll und ganz.

Sie nickte. „Manchmal heiligt der Zweck die Mittel. Ich möchte nicht, dass Sie glauben, dass ich nicht hinter Ihnen stehe... Und das, was ich gesagt habe, bleibt bitte unter uns. Ich möchte meine Stelle nämlich nicht verlieren."

Nun war ich es, die nickte. „Selbstverständlich." Ihre Idee erschien mir nur fair allen Beteiligten gegenüber, auch wenn mir innerlich immer noch klar war, dass ich meine Meinung niemals ändern würde - und das auch in dem Fall, dass ich mich widerwillig von Max von Piepstein zum Altar führen lassen würde, um meine Familie nicht zu verlieren. So stark wie Frau Schultze, die ihre Familie für die Liebe aufgegeben hatte, glaubte ich nämlich nicht zu sein.

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Sophies Tagebuch (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt