Gegenwart

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Inzwischen waren zwei Tage vergangen, seit ich Sophies Tagebuch mit nach Hause genommen hatte. Jede freie Minute verbrachte ich damit, es zu transkribieren. Es fiel mir schwer, es aus der Hand zu legen und meiner eigentlichen Arbeit nachzugehen. So groß jedenfalls war die Faszination, die von dem Tagebuch ausging. Noch immer konnte ich es nämlich nicht fassen, dass ausgerechnet mir ein solches historisches Dokument in die Hände gefallen war. Jedes Mal, wenn ich das Bändchen ehrfürchtig aufschlug, war ich besorgt, dass das kostbare Tagebuch ja nicht auseinanderbrach. Ich traute mich nicht einmal, ein Glas Wasser auf meinen Küchentisch zu stellen, während das Tagebuch dort lag: Denn das Glas konnte ja umkippen und die Tinte unleserlich machen (Warum Sophie selbst vor fast 300 Jahren nicht darauf gekommen war, als sie sich Sorgen machte, dass ihre Mutter das lesen konnte, was sie über Paul Bubel geschrieben hatte, verstand ich nicht. Vielleicht kannte die Siebzehnjährigen den alten Trick damals einfach nicht).

Obwohl ich längst eine Ahnung hatte, wie die Geschichte ausgehen würde, da sie sich schließlich vor fast 300 Jahren zugetragen hatte, war es etwas völlig anderes, die Geschichte in Sophies eigenen Worten zu lesen und das Gefühl zu haben, hautnah dabei zu sein, als zum Beispiel einen Wikipedia-Artikel über die gräfliche Familie zu lesen. Abgesehen davon, dass Sophies Existenz in dem Artikel gar nicht erwähnt wurde, war bei manchen Familienmitgliedern der Familie von Donnersberg wie der Mutter des Grafen Philipp nur vermerkt, wann sie geboren und gestorben waren. Über den Baron von Piepstein gibt es nicht einmal einen Wikipedia-Artikel, sondern man muss schon auf Google gezielt nach ihm suchen, um Belege zu finden, dass es ihn überhaupt gegeben hat - und wenn man sich dies vor Augen führt, will man selbst eigentlich nicht darüber nachdenken, welche Spuren vom einem selbst die Menschen in 300 Jahren finden werden.

Die meisten Informationen findet man natürlich online über die Gräfin Anna von Donnersberg. Da ich mich während meines Geschichtsstudiums nicht auf das 18. Jahrhundert spezialisiert hatte und erst recht auf die Geschichte der Gegend, in der ich wohne, versuchte ich, parallel zu meiner Lektüre des Tagebuchs so viel wie nur möglich über sie in Erfahrung zu bringen. Wie ich längst erraten hatte, hat die kleine Anna von Kalkheim am Ende den Grafen Philipp geheiratet und wurde nach seinem frühen Tod zur mächtigen wie umstrittenen Gräfin Anna von Donnersberg. Um feststellen zu können, um das, worüber Sophie schrieb, auch wirklich den Tatsachen entsprach und nicht etwa ein Bewohner der Kirschmühle irgendwann einmal literarisch tätig geworden ist, indem er ihre Geschichte einfach erfunden hat, wollte ich das, was ich an Informationen über Annas Kindheit und Jugend herausfinden konnte, mit dem abgleichen, was Sophie in ihrem Tagebuch behauptete. Interessanterweise gab es im Internet fast nur Informationen über das Leben der Gräfin nach dem Tod ihres Mannes.

Da ich anders als mein alter Studienfreund Jakob schon lange nicht mehr mit historischen Quellen gearbeitet hatte und eigentlich auch nicht auf die Geschichte des Saargebietes im 18. Jahrhundert spezialisiert war, beschloss ich an diesem Punkt, ihn anzurufen. Jakob freute sich immer, von mir zu hören, da er als einziges Mitglied unserer alten Clique an der Universität „hängengeblieben" ist und wir anderen so viel an unseren Schulen zu tun haben, dass wir selten dazu kommen, uns zu treffen.

Wir trafen uns am nächsten Tag, einem Freitag Nachmittag, in seinem mit alten Büchern vollgestopften Büro an der Universität. In der Tat war das ein hervorragender Zeitpunkt für ein solches Treffen, weil ich freitags nach der Schule praktisch unbegrenzt Zeit habe und dann an der Universität kaum noch Studenten waren, die wegen einer Frage zu ihrer Hausarbeit an Jakobs Tür klopfen und uns stören konnten. „Du könntest mir mit einem Unterrichtsprojekt weiterhelfen", fing ich vorsichtig an. Natürlich war die Sache mit dem „Unterrichtsprojekt" eine Lüge, die ich mir ausgedacht hatte, um ihm mein plötzliches Interesse an den Grafen von Donnersberg zu erklären. Das Tagebuch hatte ich derweil in meiner Handtasche verstaut und mir vorgenommen, Jakob nur davon zu erzählen, wenn es sich nicht vermeiden ließ: Dass Jakob es selbst würde behalten und erforschen wollen, wenn er von seiner Entdeckung erfuhr, war mehr als nur zu vermuten.

Sophies Tagebuch (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt