9. Mai 1739, 6 Uhr morgens

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Noch nie zuvor habe ich Papa und Maman so wütend erlebt wie im dem Moment, als Paul und ich von den Wachen vor sie geführt wurden. Wir durften uns ohnehin schon wie zwei Kriminelle fühlen, die auf frischer Tat ertappt worden waren: Zwar hatten die Wachen darauf verzichtet, meine Hände zu fesseln, bei Paul hatten sie jedoch keinen Augenblick gezögert und ihm seine Hände mit einem Strick hinter dem Rücken zusammengebunden. Außerdem hatten uns die Wachen auf dem Weg zurück zur Petite Maison voneinander getrennt, so dass wir nicht miteinander hatten reden und uns eine Verteidigungsstrategie hatten überlegen können.

Freilich war mir klar, wie die Situation auf meine Eltern wirken musste. Trotzdem musste ich doch zumindest versuchen zu erklären, wieso man mich allein und unbegleitet mit einem jungen Mann in den Ruinen einer verfallenen Mühle angetroffen hatte! Und ich hoffte wirklich, dass meine Eltern mir wirklich zuhören würden, auch wenn ich sah, dass Papa vor Wut am ganzen Körper rot angelaufen war und Maman mir kaum noch in die Augen sehen konnte. Überlegte sie etwa gerade, was für eine Tochter sie in die Welt gesetzt hatte?

„Papa, Maman, ich kann Ihnen versichern, dass wir nichts gemacht haben!", fing ich an. Meine Stimme nahm dabei jedoch einen schrillen und verzweifelten Klang an, der sich alles andere als souverän anhörte.

„Ich will nichts mehr von dir hören, denn ich muss ja annehmen, dass alles, was du sagst, gelogen ist!", unterbrach Papa mich sofort. Papa war jemand, der selten in Wut geriet. Allerdings explodierte er wie in diesem Moment regelrecht, wenn er sich erst einmal über etwas aufregte. „Hast du denn gar kein Schamgefühl und keinen Funken Respekt für die Ehre unserer Familie? Andererseits muss ich mich selbst an der Nase fassen, da ich ja gewarnt worden bin! Max hatte also Recht: Du willst ihn nicht heiraten, weil du einen Liebhaber hast!"

Daraufhin versuchte ich, die Lage mit den Worten „Er ist nur ein Freund, nicht mein Liebhaber!" klarzustellen, aber es war zwecklos. Dass Max von Piepstein Papa gegenüber schon behauptet hatte, dass ich einen Liebhaber hatte, kam für mich nicht überraschend: Was mich allerdings enttäuschte, war, dass Papa mich nicht darauf angesprochen hatte.

„Hast du auch nur eine Sekunde nachgedacht, bevor du dich mit ihm aus dem Staub gemacht und dich in eine kompromittierende Lage gebracht hast?", fragte Maman in einem vorwurfsvollen Ton.

Ein „Nein, es war dumm von mir!" lag mir in diesem Moment auf der Zunge. Wenn ich die Chance gehabt hätte, meine Schuld zu gestehen, wäre die Szene im Hof womöglich anders ausgegangen. 

Aber Paul kam mir zuvor. „Lieber Graf, liebe Gräfin, alles ist meine Schuld! Ich habe Ihrer Tochter etwas zeigen wollen und nicht die Folgen bedacht, die sich daraus ergeben, dass Ihre Tochter Ihre Residenz ohne Begleitung verlässt."

Obwohl ich Paul so viel Eloquenz gar nicht zugetraut hätte, zeigte sich Maman davon unbeeindruckt. „Ich habe mit meiner Tochter gesprochen, nicht mit Ihnen! Sie sollten lieber still sein!"

„Maman, nur weil Sie wütend sind, sollten Sie so nicht mit Paul sprechen!", rief ich aus, um Paul zu helfen.

„Deine Mutter spricht mit diesem unverschämten Bengel auf die Weise, die sie für richtig hält!", entgegnete Papa in meine Richtung und wandte sich dann Paul zu. „Haben Sie auch nur die leiseste Vorstellung davon, was Sie angerichtet haben? Meine Tochter ist so gut wie verlobt!"

Paul schüttelte den Kopf. „Es war nicht meine Absicht, Ihnen Unannehmlichkeiten zu bereiten."

„Bringt ihn nach Kastellburg und sperrt ihn in den Kerker! Meine Frau und ich wollen diesen Kerl, der versucht hat, unsere Tochter zu entführen, nicht mehr sehen!", befahl Papa den Wachen.

„Papa, nein!", rief ich und versuchte, mich vor Paul zu stellen und ihn zu beschützen. Aber ein Wächter packte mich und hielt mich fest. Zwar strampelte ich daraufhin und versuchte, um mich zu schlagen, aber ich musste in einem Zustand der zunehmenden Verzweiflung erkennen, dass es sinnlos war: Der Wächter war nicht nur fast zwei Köpfe größer als ich, sondern auch wesentlich schwerer und stärker.

Paul hingegen ließ sich widerstandslos abführen. Er schaute betont nach unten und nicht einmal in meine Richtung, als er zurück in die Kutsche gebracht wurde. Was für ein Schicksal ihm drohte, wenn ich meine Eltern nicht davon überzeugen konnte, dass er unschuldig war, daran wollte ich gar nicht erst denken.

„Bring sie in mein Arbeitszimmer! Ich will nicht, dass das ganze Haus von der Schande meiner Tochter erfährt!", trug Papa dem Wächter auf, der mich festhielt, nachdem die Kutsche abgefahren war.

Als wir in Papas Arbeitszimmer ankamen, in dem ich so viele schöne Stunden mit ihm verbracht hatte, war ich längst mit den Nerven am Ende: Ich war nur noch ein Schatten meiner selbst und konnte nur noch heulen. Mir kam es sogar so vor, als ob ich buchstäblich neben mir stand und die Szene, die gar nicht gut für mich ausgehen konnte, beobachtete. Vor ein paar Stunden hatte ich mit Paul noch bei strahlendem Sonnenschein die Ruinen der alten Mühle erkundet, und jetzt lag meine ganze Existenz in Scherben.

„Es ist vollkommen klar, dass du diesen Mann nie wiedersehen wirst!", stellte Papa fest, nachdem er die Tür geschlossen und sich davon überzeugt hatte, dass sich niemand vom Personal in der Nähe aufhielt, um „rein zufällig" etwas von unserem Gespräch zu überhören.

„Ebenso ist klar, dass du nun möglichst bald heiraten musst", merkte Maman an. „Ich kann nur für dich hoffen, dass dieser Bauerntrampel mit den schönen Augen dich nicht schon entehrt hat!"

„Wie können Sie nur so etwas von mir denken! Ich bin doch Ihre Tochter!", entgegnete ich in einem völlig aufgelösten, hysterischen Ton.

„Ja, es ist wohl wahr, dass Du mein Kind bist. Deshalb habe ich ein besseres Benehmen von dir erwartet!", schleuderte Papa mir wütend ins Gesicht. „Ich kann nur hoffen, dass Max dich jetzt noch zur Frau nehmen will!"

„Bitte, nein!", schrie ich, als ich hörte, dass ich nach allem, was vorgefallen war, noch immer den Baron heiraten wollte. „Sie wissen nicht, was er mir gestern antun wollte!"

„Wovon redest du?", fragte Papa und wirkte so, als ob er nicht begreifen wollte, was ich da gerade angedeutet hatte. Maman wandte sich währenddessen von mir ab: Es war eindeutig, dass sie ihr Urteil über mich bereits gefällt hatte - und es fiel nicht positiv für mich aus.

„Es war gar kein Wildschwein, das den Baron attackiert hat, sondern Paul, der mich vor den Avancen des Barons gerettet hat!", entfuhr es mir.

„Und warum bitte schön hat sich dieser ‚Paul' just in diesem Moment auf unserem Anwesen aufgehalten?", fragte Papa ungläubig.

„Er wollte sich mit mir treffen", gestand ich. „Aber unser Verhältnis ist nicht so, wie Sie denken. Wir sind gute Freunde, die gerne miteinander reden." Dass Paul mich vorhin bei der Mühle geküsst hatte, mussten meine Eltern ja nicht erfahren, weil ich mir selbst noch nicht über meine Gefühle für ihn im Klaren war.

Maman schüttelte nur entsetzt den Kopf, als sie von meinen heimlichen Treffen mit Paul erfuhr.

„Ich glaube kein Wort von dem, was du über Max behauptest! Der Max, den ich seit vielen Jahren kenne, ist in dieser Hinsicht ein Ehrenmann", stellte Papa klar. „Vermutlich ist er eher dir zu deinem Schäferstündchen mit diesem ‚Paul' gefolgt, und dann ist es zu einem Handgemenge gekommen. Dein ‚Paul' sollte froh sein, dass Max ihn nicht angezeigt hat, um deine Ehre zu schützen!"

Ich konnte es nicht fassen, dass meine eigenen Eltern mir nicht glauben wollten. „Fragen Sie einfach Ihren Freund nach dem Grund für den Faustschlag, den er ins Gesicht bekommen hat. Er hat immerhin versucht, mich mit der Wahrheit zu erpressen", stellte ich nur trocken fest.

„Das werde ich nicht tun", erwiderte Papa. „Stattdessen wirst du jetzt auf dein Zimmer gehen und dieses künftig nur noch verlassen, wenn wir es dir erlauben. Und diese Regelung bleibt bis zu deiner Heirat in Kraft."

Wollte er wirklich eine dieser gefangenen Prinzessinnen aus mir machen? Jenen armen Geschöpfen, von denen so viele Volksmärchen handelten? Das konnte und durfte doch nicht sein, weshalb ich versuchte, ein letztes Mal zu ihm durchzudringen: „Papa, bitte!"

Aber die Würfel waren längst gefallen, wie man so schön sagt. Überraschenderweise war es dieses Mal Maman, die das letzte Wort hatte: „Entweder gehst du jetzt freiwillig, oder wir werden dich auf dein Zimmer bringen lassen! Denn dieses Gespräch ist hiermit vorbei, und es wird nie wieder eine Diskussion darüber geben!"

(29297 Wörter)

Sophies Tagebuch (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt