Mit zitternden Händen umklammere ich das Steuerrad auf dem Weg zurück zu meiner Anlegestelle. Da das Wetter auffrischt und wir vorhin das Dach noch etwas weiter – zur Hälfte – aufgeknöpft haben, ist Mara ins Bootinnere gegangen. Dadurch bin ich sicher vor neugierigen Blicken und auch vor mir selbst. Ich weiß nämlich gerade nicht, ob ich mich adäquat äußern kann zu bestimmten Themen.
Die Begegnung mit Vedran löst vieles in mir aus. Das hatte ich nicht gedacht. Ich wollte dahin zurück. Es ist ein Schlüsselmoment meines Lebens, das ist mir bewusst. Genauso wie ich weiß, dass ich mich langsam dem nähere, wovor ich mich am meisten fürchte. Nicht nur vor diesem Moment des Geschehens, der mein Leben komplett aus den Angeln gehoben hat – wohl eher, der mein Dasein in ein Haufen Nichts verwandelt hat –, mich graut es auch davor, was dann geschehen wird. Und ... ob ich mich überhaupt daran wagen werde. Ich habe den Weg eingeschlagen. Für Mara, aber immer mehr auch für mich. Doch kann ich das wirklich?
Meine zitternden Hände und mein grummelnder Magen meinen ganz klar Nein. Dazu schreit mich ein Anteil von mir an. Auf gar keinen Fall! Doch ein anderer möchte es. Wunsch und Qual. Es zerreißt mich noch. Wieder einmal stehe ich an diesem verkackten Punkt.
Vedran und seine Art. Ich hatte es echt nicht für möglich gehalten, dass es mich derart durcheinanderbringt, denn es ist ein wunderschöner Moment. Aus allen bisherigen Reisen und den Zielen konnte ich Gutes mitnehmen. Wie Mara meinte, durfte ich sie auf eine ganz besondere Weise noch einmal erleben. Aus einer anderen Perspektive, es bedeutet mir viel. Doch es gibt Erlebnisse, daran gibt es nichts Schönes.
Öfters schiele ich zur Tür, damit ich nicht von einer plötzlichen Mara überrascht werden kann. Doch entgegen all meinen Befürchtungen erscheint sie nicht in meinem Sichtfeld.
Ich bin froh, dass wir nicht weit herausgefahren sind und ich gleich die Luca nur noch festmachen muss, weil ich meine Finger immer krampfhafter um das Steuer krallen muss, um es halbwegs zielgerichtet zu halten. Ich würde sonst befürchten, dass ich die Kontrolle noch vollständig verlieren würde.
Trotz des Windes, der um mich herumweht und den ich erst jetzt richtig wahrnehme, gelangt ein aromatischer Duft an meine Nase. Es riecht würzig.
»Kochst du?«, versuche ich gegen das Tosen des Windes durchzudringen. Wir sollten das Dach gleich wieder über das ganze Deck anbringen oder wir essen ausnahmsweise auf dem Bett. Nun steckt Mara doch ihren Kopf durch die Tür und sieht mich fragend an.
»Kochst du gerade?«, wiederhole ich meine Frage.
Sie nickt und unterstreicht ihre Antwort mit dem Schwingen des Kochlöffels, was mich schmunzeln lässt.
»Wir sind jetzt da«, lasse ich sie wissen und konzentriere mich wieder voll und ganz auf den Weg. Im Augenwinkel bemerke ich, wie sie wieder hinein geht.
Nachdem ich das Boot festgemacht habe, mache ich mich gleich an das Dach. Zum Glück haben wir es nur zur Hälfte aufgeknöpft und die Hälften zur Seite eingerollt. Somit muss ich sie lediglich aus ihre Verankerung befreien, ausrollen und sie an den richtigen Stellen mit den Druckknöpfen und Reißverschlüssen verschließen. Das Zittern in meinen Händen ist mir vor allem zu Beginn zwar keine Hilfe, doch es wird tatsächlich weniger, je mehr ich mich damit beschäftige.
»Joe«, höre ich hinter mir. »Soll ich dir helfen?«
»Ach quatsch. Bin gleich fertig. Nur noch die–« Verflucht!
Und dann muss natürlich genau das passieren, was sonst nie passiert. Mir entgleitet das letzte Plastikplanenstück und der Wind segelt es dankenswerterweise nach außen, sodass es schön auf der Außenseite herumflattert. Ganz toll. Zum Glück ist die Plane an einer Seite fest. Also nicht futsch gegangen. Ich bekomme das herumwedelnde Teil jedoch nicht zu greifen. Verdammte Kacke. Ich betrachte den Mist kurz und warte dann auf die nächste Böe. Wenn ich es richtig beobachtet habe, bringt mir der Wind zunächst das Teil zu mir heran, bevor es das dann wieder nach außen fortreißen will. Hoffentlich bin ich schneller.
Einen Fingernagel weniger und mit einem blutigen Schnitt dazu an der gleichen Hand habe ich es kurz danach geschafft, das Mistding zu befestigen. Ich wende mich stolz auf meinen errungenen Sieg zu Mara um, die gequält lächelnd zu mir schaut.
»Yeah«, stößt sie nicht überaus euphorisch aus. »Hast du nun überhaupt noch Hunger?«, hakt sie nach, woraufhin wir beide anfangen müssen zu lachen.
Verarztet, satt und erschöpft liege ich nun mit Mara im Bett. Sie ist bereits eingeschlafen. Ich hoffe nur, dass mich der Schlaf auch schnell zu sich nehmen möge. Mein Atem wird bereits ruhiger und flacher. Nur noch dumpf dringen Geräusche zu mir heran. Wie der Wind an dem Planendach draußen zerrt und von irgendwo anders ein leichtes Quietschen. Schon ein paar Sekunden später bemerke ich glücklicherweise die Schwere auf meinen Augenlidern und dann, wie sich mein Körper immer mehr in die Matratze absenkt.
Kratzende Geräusche. Meine Nackenhaare stellen sich auf. Ich kann den Klang nicht einordnen. Es würde mir vermutlich auch leichter fallen, wenn ich etwas sehen würde. Es ist düster. Erneut setzt das Geräusch ein. Obwohl ich nicht weiß, woher es kommt, drehe ich mich um. Was verursacht denn so einen Laut? Irgendein Tier? Nein, das glaube ich nicht. Es klingt nicht tierisch. Da, schon wieder. Es klingt ganz und gar nicht wie ein Tier. Eher wie ...
Es kommt näher; wird lauter. Nicht nur kratzend. Ein Quietschen mischt sich mit in den Klang hinein. Quietschend kratzend. Schrill und dumpf zugleich.
Jetzt weiß ich es ... Mir läuft von jetzt auf gleich der Schweiß aus allen Poren. Mit zittrigen Händen versuche ich um mich herum die Gegend abzutasten. Meine Haut ist von vielen sich erhebenden Huckel übersät. Wo bin ich? Warum ist es so dunkel?
»Was machst du?« Ich erschrecke. Das war meine eigene Stimme, doch ich habe nicht gesprochen.
»Was machst du?«, wird wiederholt und es klingt erneut nach mir. Wenn das möglich ist, sprießt eine zweite Gänsehaut über die erste.
»Was machst du?«
»Aufhören!«, schreie ich zurück. Was ist hier bloß los? Warum immer dieselbe Frage in genau dergleichen Tonart?
»Was machst du?«
»Was machst du?«
»Was machst du?«, wird dreimal zurückgepfeffert, wobei das erste Mal noch genauso klingt wie die Male zuvor. Doch mit jedem weiteren Mal verändert sich der Klang ... »Was machst du?« Das Zittern meiner Hände hat sich längst auf meinen gesamten Körper ausgebreitet. Es ist nun auch in mir drin. Es klingt nach Luise.»Wo bist du?«, frage ich ängstlich.
»Schau dich doch nur mal um!« Es klingt nicht herzlich, sondern vorwurfsvoll.
»Schau dich doch nur mal um!«, wiederholt sie, und kurz darauf setzt erneut das anfängliche, eklige, quietschende und kratzende Geräusch ein.
»Nein!«, brülle ich mit voller Kraft heraus. Doch es ist zu spät. Schon wieder bin ich zu spät. Stille ist eingetreten. »Nein, nein, nein«, krächze ich herum.
Nach Luft japsend jagt mich mein Körper hoch – meine Arme rudern dabei zu beiden Seiten – in den Sitz. Nein. Mir ist kalt und heiß zugleich. Bin ich wach? Bin ich noch in irgendetwas gefangen? Als meine Hände etwas ruhiger bei meinem Körper ankommen, reibe ich sie über meine Schenkel. Mein nackter Oberkörper wird von der frischen Luft erfasst, sodass die Schweißperlen auf ihm nur deutlicher zu spüren sind. Allmählich wird mir bewusst, wo ich bin. Verdammt, auch mit wem ich hier bin. Eilig drehe ich meinen Kopf nach hinten zu Mara.
Meine Augen sind noch dabei, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, die uns umgibt. Doch erkennen kann ich, dass ihr Gesicht zu mir gewandt ist. Nach mehrmaligem Blinzeln kann ich noch mehr sehen.
Grün-blaue Augen starren mich an.
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Zwischenimpressionen
Romance◦𝗔𝗸𝘁𝘂𝗲𝗹𝗹𝗲 𝗟𝗶𝘁𝗲𝗿𝗮𝘁𝘂𝗿 & 𝗥𝗼𝗺𝗮𝗻𝘁𝗶𝗸◦ Zwischen Qual und Wunsch befindet sich Joe mit seinen inneren Dämonen, die genau dadurch immer deutlicher hervorkommen. Während seine Vergangenheit ihn quält, hängt seine Gegenwart am seiden...