Kapitel 89 - Rocco

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Am nächsten Morgen werde ich von lauten Geräuschen von unten geweckt. Es ist meine Schwester. 

„Nein! Nein!", brüllt sie durch den ganzen Flur. 

Ich schlage die Augen auf und werfe einen Blick auf meine Zimmeruhr, die von hellen Sonnenstrahlen angeleuchtet werden. Es ist halb zehn, in einer halben Stunde haben Julia und Pia den Besichtigungstermin im Behindertenwohnheim. Ich weiß, dass es immer schwer ist, Pia zu erklären, was passiert und dass es oft zu solchen Anfällen wie gerade kommt, aber als ich kurz darauf höre, wie sie beginnt zu weinen, mache ich mir doch Sorgen. 

Ich stehe auf und laufe die Treppe herunter, wo Pia am Rand steht, ihren Kopf in den Händen versenkt. Meine Tante steht daneben und versucht Pia zu beruhigen. 

„Hey... Beruhig dich.", redet sie auf meine Schwester ein, aber sie weint noch immer. 

„Was ist los?", frage ich müde nach und reibe mir die Augen. 

„Ich versuche Pia gerade zu erklären, was wir machen, aber sie ist gefrustet, weil wir noch nicht gefrühstückt haben.", erklärt Julia und streichelt über Pias Haare. 

„Ach so" Ich lehne mich ans Treppengeländer. Es ist doch halb so schlimm. 

„Nein! Nein!", ruft Pia wieder. Ich gehe einen Schritt auf sie zu und lege meine Hand auf ihren Arm. 

„Pia, guck mich mal an.", versuche ich es. Julia geht einen Schritt zurück und guckt mir zu. Pias Blick hebt sich und trifft sich mit meinem. „Julia geht jetzt mit dir ein Haus angucken. Du musst da aber ein bisschen leiser sein. Das dauert auch nicht lange und danach darfst du frühstücken.", erkläre ich. Pia guckt mich an und wischt sich Tränen aus dem Gesicht. 

„Frühstücken", wiederholt sie. 

„Genau. Wenn du jetzt lieb bist und mit Julia mitkommst, dann darfst du danach frühstücken.", wiederhole ich. Damit scheint sich Pia zufrieden zu geben und Julia nimmt sie an der Hand. 

„Danke Rocco" Sie lächelt mich an, dann packt sie ihre Sachen zusammen und die beiden verschwinden. Julia wird bald wahrscheinlich wegen ihres Jobs umziehen und sie hat sich schon so lange um Pia gekümmert, weshalb sie jetzt ein geeignetes Wohnheim für sie sucht. Heute Morgen ist der erste kurze Termin, heute Nachmittag bekommen die beiden noch eine Führung in einem anderen Wohnheim. Für mich heißt das, dass ich fast den ganzen Tag das Haus für mich habe. Für mich und Lil. 

Ich schlürfe in die Küche und schütte Cornflakes in eine Schüssel, um sie dann mit Milch zu übergießen. Ich schnappe mir noch einen Löffel, dann setze ich mich an den Tisch und schaufele das Müsli in meinem Mund. 

Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich es finde, wenn meine Schwester einfach in ein Wohnheim kommt und ich sie nicht mehr oft sehe. Ich liebe sie und es ist toll, mit ihr hier zu leben. Ich würde mich sehr einsam fühlen, wenn sie weg ist. Allerdings weiß ich auch, dass ich nächstes Jahr meinen eigenen Weg gehen werde und Julia eh weg muss. Pia kann hier nicht alleine leben, also muss sie irgendwo hin, wo sie betreut werden kann. Ich denke, ein Wohnheim ist da der beste Platz, auch wenn ich echt noch nicht weiß, wie es ohne meine Schwester werden wird. 

Ich beginne, zurück an all die Dinge zu denken, die wir miteinander erlebt haben. Wir haben so viele lustige Sachen zusammengemacht und einfach Spaß gehabt. Das war schon immer so. Als wir noch bei unseren Eltern gewohnt haben weniger, aber auch da. Mom und Dad waren immer etwas strenger, aber ich habe das nie doof gefunden. Sie haben sich halt sehr um uns gesorgt und mir gezeigt, dass ich früh Verantwortung übernehmen muss. 

Es kam oft vor, dass ich nicht wie alle meine Freunde nachmittags in den Skatepark oder ins Freibad gehen konnte, weil ich eben auf Pia aufpassen musste. Klar, teilweise fand ich das nicht so toll, aber ich habe mich dran gewöhnt und es macht mir inzwischen gar nichts mehr aus. Ich liebe Pia eben und ich würde noch so viel mehr für sie tun. Wir sind eben eine Familie. Dazu gehört nehmen, aber auch geben. Bei mir eben etwas mehr geben. 

Ich weiß, dass Pia gut in einem Wohnheim untergebracht sein wird und ich weiß auch, dass sie dort schnell glücklich werden wird, aber mir macht alles trotzdem noch Angst. Pia ist zusammen mit Julia und Lil eine der wichtigsten Personen in meinem Leben und ich will sie nicht so einfach verlieren. Ich kann sie immer besuchen, aber was werde ich nach den Ferien machen? Wahrscheinlich am Verlag arbeiten und ich weiß nicht, ob das in der Nähe von Pias Wohnheim ist. 

Apropos Verlag, ich sollte dringend mal eine Mail an den gewünschten Verlag schicken, jetzt, nachdem Lil zugestimmt hat. Also löffele ich den letzten Rest aus meiner Schüssel, um sie dann in die Spülmaschine zu räumen. Danach laufe ich in mein Zimmer und starte meinen Laptop. Nacheinander erscheinen Lade-Zeichen und das Logo meines PCs. Als der Startbildschirm aufgetaucht ist, öffne ich den Browser und klicke in das Suchfeld. Verlag Hamburg, gebe ich in die Suchleiste an und werde sofort mit tausenden Artikeln und Websites bombardiert. Ich öffne eine Website nach der anderen, bis ich etwas Geeignetes gefunden habe. Ein Verlag für Kinder- und Jugendliteratur. Ich scrolle im Bereich Über uns nach unten, um die Kontaktdaten zu finden, als ich auf das stoße, wonach ich die ganze Zeit suche:

Unsere Jobs!

Du bist Schüler*in oder bereits fertig mit der Schule und weißt nicht, wie es weitergehen soll? Du hast Lust, in die Arbeit im Verlag reinzuschnuppern und etwas über Bücher zu lernen? Dann bist du hier genau richtig! Wir stellen Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 16 bis 20 Jahren ein. Egal, ob Praktikum, Minijob, Teilzeit oder Vollzeit, wir freuen uns auf dich! Schreib uns gerne eine Mail an folgende Mailadresse.

Dahinter befindet sich die E-Mail-Adresse. Ich lächele zufrieden. Das ist genau das richtige für Lil und mich. So haben wir die Chance, erstmal ins Verlagsleben reinzuschnuppern und uns dann dazu zu entscheiden, ob uns das gefällt. 

Ich klicke auf die angegebene Mailadresse und sofort öffnet sich mein Mailprogramm und ich beginne, die Nachricht zu verfassen.

Sehr geehrtes Team des Verlags,
mein Name ist Rocco und ich bin gerade eben auf ihre Website gestoßen. Meine Freundin und ich (17 und 18) sind momentan auf der Suche nach einem Jobangebot und wir hätten große Lust, die Arbeit in einem Verlag mal auszuprobieren. Wir haben beide die Schule abgeschlossen und würden gerne mit einem Praktikum beginnen, um herauszufinden, ob uns die Verlagsarbeit zusagt. Steht das Angebot von Ihrer Website noch und hätten Sie Angebote, die uns zusagen könnten?
Vielen Dank im Voraus und mit freundlichen Grüßen

Ich schreibe noch meinen vollen Namen darunter, lese die Nachricht nochmal durch, dann sende ich sie zufrieden ab und fahre meinen PC wieder herunter. Wenn wir Glück haben, bekommen wir bald eine Antwort und können ein Praktikum im Verlag machen. Ich freue mich schon so sehr, dass ich einen freudigen Luftsprung mache, als ich aus meinem Zimmer herauslaufe. Bald sind die Ferien vorbei und trotzdem ist das mit Lil und mir nicht vorbei. Wir werden zusammen arbeiten. Wie cool ist das bitte? 

Körper - das komische Ding, in dem meine Seele gefangen istWo Geschichten leben. Entdecke jetzt