XIII

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Den Brief trage ich in meiner Jackentasche. Ich wollte ihn nicht im Postkasten lassen, aber ihn auf machen, wenn andere dabei sind, will ich genau so wenig. Ich warte bis zu meiner Mittagspause. Ich ziehe meine Jacke an und gehe hinten aus dem Café auf den Parkplatz. Er ist bis auf vier Autos leer. Sie gehören Nagi, meiner Chefin und zwei weiteren Kolleginnen im Café.

Der Parkplatz ist mit einem Maschendrahtzaun eingegrenzt und sperrt das wilde Dickicht aus. Sankt Walborrow hat zwar keine Parks, dafür wuchern die Waldausläufer in jeden Winkel und jede Ecke, den sie erreichen können. Jedes Jahr gibt es daher nach dem Herbst ein großes Fest. Die Stadt bittet um Freiwillige, die gröbsten Teile des Gestrüpps klein zu schneiden, zu fällen und zurückzutreiben.

Ich habe bis jetzt immer mit gemacht. Kostenlosen Kaffee, Donuts und Eintopf lasse ich mir nicht entgehen. Julian macht auch immer mit, Nagi sieht uns nur dabei zu und kommentiert, wie bei einer Sportsendung. Es macht Spaß, aber jetzt wundere ich mich, weshalb das jedes Jahr notwendig ist. Die Hecken wuchern so emsig, als wollten sie aus dem Wald fliehen. Niemanden stört das, niemand spricht es aus, als wäre es das Normalste auf der Welt. Also habe ich es auch ignoriert, die Schultern gehoben und meinen kostenlosen Kaffee genossen. Jetzt runzle ich die Stirn, während ich die knorrigen Äste der Bäume und Sträucher betrachte.

Was mache ich mir vor. Ich will mich ablenken, um nicht in meine Tasche greifen zu müssen. Stattdessen blicke ich auf die Uhr und hoffe, dass meine Pause schneller um ist. Ich hüpfe leicht auf der Stelle, um mich warm zu halten, und spähe dann in den trüben Himmel. Man erkennt keine Wolken mehr, alles ist eine graue Suppe, es wird wohl bald wieder schneien.

Ich gehe die Betonstiegen hinunter und mache eine kleine Runde um den Parkplatz. Hinter dem Waldstreifen höre ich gedämpft die Geräusche der Stadt. Menschen, Autos, Hunde. Erst hier, inmitten der sanften Geräuschkulisse eines geschäftigen Tages, ziehe ich den Brief aus der Tasche.

Er ist zerknittert. Es steht immer noch Kari darauf. Karibu, so hat mich mein Vater genannt, wenn ich durch den Tiefschnee gelaufen und selten eingesunken bin. Jetzt verhöhnt mich der Spitzname und ich reiße den Umschlag mit einem Zähneknirschen auf. Meine Nachricht kam wohl nicht an. Ich werde nicht in Ruhe gelassen.

Ich falte den Zettel auseinander und werfe einen Blick in das zugeschneite Dickicht neben mir. Es raschelt, als ein Fuchs vor mir davon läuft. Das würde ich jetzt auch gerne machen. Vor allem, nachdem ich sehe, was mir geschickt wurde. Es sind zwei Sätze, wie das erste Mal. Die bemüht neutrale Schrift neckt mich und ich werde mir immer sicherer, dass das einen guten Grund hat. Aber ich kann den Gedanken nicht länger halten, da die Worte in meinen Verstand dringen.

Oh, Kari, heißt es. Du hast die Türe aufgemacht.

Die Buchstaben beginnen vor meinen Augen zu zittern. Ja, ich habe am Sonntag die Türe aufgemacht. Aber auch an jedem anderen Tag. Die Luft wird knapp, ich hebe meinen Blick von den beiden Sätzen und spähe ins Dickicht. Mit einem Mal fühle ich mich verfolgt. Ich bilde mir ein, ein Paar Augen auf mir zu spüren, das mich zwischen die Stämme hindurch im Visier hat. Ich mache einen Schritt weg von dem Zaun und schlucke.

Ich ringe den Fluchtinstinkt nieder und wundere mich weshalb. Ich sollte Reißaus nehmen, ich habe jeden Grund dazu. Ich tus aber nicht. Wenn ich jetzt einknicke, kann ich nie wieder einen Fuß vors Haus setzen, ohne Paranoia zu verspüren. Dass es längst so weit ist, leugne ich.

Ich wende das Blatt Papier und erstarre. Da steht ein dritter Satz. Er ist ins rechte untere Eck geschrieben. Rechtsbündig. Für die ersten, irritierenden Sekunden frage ich mich bloß, wie der Absender gewusst hat, wo er anfangen muss, damit der Satz genau am Blattrand endet.

[Novelle] Karis Brief 🗸Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt