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Der Briefumschlag besteht aus schwerem Büttenpapier. Obwohl es nur Einbildung ist, liegt er schwerer als andere Briefe in meiner Hand. Ich blicke auf und spähe den einsamen Weg hinunter, doch der Briefträger ist nirgends zu sehen. Normalerweise erhalte ich keine Briefe, ich wohne zurückgezogen, geflüchtet vor meinem früheren Leben und glücklich isoliert am Ende der Straße von Sankt Walborrow. Wald und Wiese in alle Richtungen, mein Haus liegt in der kleinen Tasche zwischen Landstraße und dunklem See.

Ich habe den Postboten gehört, als er die rostige Klappe meines Briefkastens mit einem Quietschen geöffnet und den Brief hineingelegt hat. Ich habe gerade in der Küche direkt neben der Türe Teewasser aufgestellt. Für gewöhnlich bringt er aber keine Post am Sonntag. Also habe ich aufgeblickt und durch die Spitzengardine hinaus auf meine Veranda gespäht. Aber der Postbote war schon weg.

Jetzt liegt sein Brief in meinen kälter werdenden Händen und mein Atem lässt die Handschrift auf dem Umschlag in sanften, pulsierenden Atemwölkchen rhythmisch verschwimmen.

Kari steht auf dem Umschlag. Die Schrift ist uncharakteristisch frei von jeglicher Persönlichkeit, als hätte jemand versucht in generischer Schreibmaschinenschrift meinen Namen auf das Büttenpapier zu zwingen und war dennoch an der Monotonie der Striche gescheitert.

Niemand in Sankt Walborrow nennt mich Kari. Sie können es gar nicht, denn das ist der Name, den ich daheim in meinem alten Leben getragen habe. Kari kommt nicht einmal von meinem wirklichen Namen, es ist ein längst vergessener Spitzname. Der allem Anschein nach doch nicht so vergessen ist, wie ich denke.

Ich fange an zu zittern und lausche in den stillen Morgen. Gehe wieder ins Haus und verschließe die Türe fest hinter mir. Mein Teekessel fängt an zu kreischen und ich gieße den Tee auf.

Ich möchte den Brief eigentlich nicht öffnen, aber er lockt mich. Spätestens, als all meine Haushaltspflichten erledigt sind, kann ich es nicht mehr hinauszögern. Ich nehme den Umschlag in die Hand und drehe ihn herum. Fast fühlt es sich so an, als würden meine Fingerspitzen anfangen zu brennen. Ich öffne den Umschlag mit dem Brieföffner und ziehe das einzelne Blatt Papier hervor. Falte es auseinander und lese.

Sie kommen bald. Vielleicht solltest du dir gründlich überlegen, ob du die Türe öffnest.

Ich bleibe eine geschlagene Viertelstunde in der Küche stehen und starre auf die ebenso bemüht neutralen Buchstaben zwischen meinen Fingern.

Es ist eine Drohung und meine Gedanken springen sofort zu sämtlichen Ämtern, die wissen, wo ich wohne. Habe ich meine Rechnungen nicht bezahlt? Habe ich eine Mahnzahlung übersehen? Wurde mein Auto abgeschleppt?

Ich habe gar kein Auto.

Ich schlucke schwer, ein Geräusch, das in der nun allzu tiefen Stille des Waldes hinter meinem Haus viel zu laut klingt.

Sie kommen bald.

Ich schüttele den Kopf. Ein dummer Streich von den Jugendlichen aus Sankt Walborrow. Sie machen so etwas vermutlich gerne, schicken gruselige Warnungen in die Nachbarschaft und genießen die daraus resultierende Paranoia.

Der Postbote hätte bestimmt hereingeschaut, so wie er es immer macht, wenn er die Rechnungen bringt. Klar, es waren die Jungs aus der Nachbarschaft.

Ich werfe den Brief in den geflochtenen Weidenbehälter für Papiermüll und gieße mir eine Tasse Tee ein.


[Novelle] Karis Brief 🗸Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt