Shared Dad

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Ich hätte noch stundenlang vor dem Graffiti Portrait von Lyn stehen bleiben können, doch langsam ging die Sonne unter dem wolkenverhangenen Horizont unter und signalisierte mir, dass es Zeit war nach Hause zu kommen.
Während wir das halbfertige Gebäude verließen und zurück in Richtung Innenstadt gingen, vermischte sich das Grau des Himmels mit den letzten Sonnenstrahlen an diesem Winterabend. Ich schätze, dass es ungefähr fünf Uhr war, was bedeuten würde, dass jeden Moment die Dunkelheit einbrechen müsste.
Ich war froh jemanden neben mir zu haben, der sich in dieser riesigen Stadt auskannte. Noch mehr war ich jedoch beruhigt, weil er mir Gesellschaft leistete - ganz egal, wie fremd er mir doch eigentlich war. Jetzt bemerkte ich auch erst, wie naiv ich seit mehr als 24 Stunden gehandelt hatte. Schließlich bin ich zu einem Fremden mit nach Haus gegangen, ( egal, ob Schwarm oder nicht, er blieb nun mal ein Fremder ), habe sogar bei ihm übernachtet und lief jetzt mit jemanden durch die eingebrochene Dunkelheit, der genauso fremd für mich war.
Was war denn bloß los mit dem Mauerblümchen, mit dem schüchternen Mädchen vom Dorf?
Vermutlich war es einfach wieder Zeit nach Hause zu kommen und etwas vertrautes um mich herum zu haben. Ich war lange genug weg und ...
In diesem Moment setze mein Herzschlag vermutlich aus, denn es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ich war seit über 24 Stunden nicht zuhause gewesen. Und ich habe mich nicht wieder gemeldet. Womöglich war es doch keine so gute Idee, jetzt zurückzukehren. Aber ich hatte mich lange genug gedrückt. Irgendwann musste ich nun mal zurück, ganz egal, was mich dort erwartet.
Ich schlung meinen Schal über meine Schulter und vergrub, von schlechtem Gewissen gequält, meine Hände in den Jackentaschen. Ich war eigentlich immer zuverlässig und man konnte immer auf meine Pünktlichkeit vertrauen. Wieder einmal wurde mir klar, wie sehr ich in den vergangenen Stunden meine Prinzipien über den Haufen geworfen hatte. Und während ich versuchte, mich selbst wiederzuerkennen, bogen wir um mehrere Ecken und plötzlich blieb Domi stehen. Durch einen kahlen Busch konnte man auf einen fast leeren Parkplatz blicken. Nur wenige Blätter versperrten die Sicht, sodass ich Tom, an seinen Roller gelehnt, sofort entdeckte. Er fuhr sich durch die blonden Haare und schaute kurz darauf ungeduldig auf seine Uhr.
Domi guckte mir in die Augen und irgendetwas an dieser Situation war faul.
"Kennst du ihn?", fragte ich.
Wieso wusste er, dass ich mit Tom gekommen war und woher wusste er, dass dieser jetzt auf dem Parkplatz steht?
"Besser als mir lieb ist.", knurrte Dominik leise.
Ich starrte ihn fragend an und wartete auf Details.
"Ich hab ihn gesehen, als du zu uns an den Flyerstand gekommen bist. Und er steht immer hier auf diesem Parkplatz. Ich dachte, wenn du mit ihm hergekommen bist, wird er dich auch wieder mit zurück nehmen."
Ich nickte langsam.
Okay, er hatte also mitbekommen, dass wir zusammen unterwegs waren. Und anscheinend kannten sich die beiden. Und er wollte mich zu Tom zurück bringen. Das mag ja Sinn ergeben, aber sein mürrischer Kommentar gerade, machte das Ganze etwas komisch. Besser als mir lieb ist, hallte es mir durch den Kopf.
In diesem Moment blieb Toms Blick, welcher über den Parkplatz schweifte, an mir fest. Ich gab mir auch keine Mühe, mich hinter dem dichter bewachsenen Busch zu verstecken, denn er kam sowieso schon auf mich zu. Ich schaute zu Dominik, doch dessen Blick war auf Tom geheftet.
"Sagen wir es so", begann er, ohne mich dabei anzusehen. "Sein Vater war für 10 Monate auch meiner."
Verwirrt starrte ich zurück zu Tom. Er war nur noch wenige Meter von dem Gebüsch, hinter dem ich stand, entfernt. Eilig blickte ich zurück zu dem Platz an dem Dominik noch vor wenigen Augenblicken gestanden hatte, doch er war wie vom Erdboden verschluckt. Ich drehte mich um die eigene Achse, konnte ihn aber nirgends ausfindig machen. 
"Suchst du etwas?"
Aus meiner Trance gerissen, schaute ich Tom an. Erst als er die Augenbraue hochzog, bemerkte ich, dass es eine Frage gewesen war.
"N-nein", stotterte ich und bahnte mir mir meinen Händen daraufhin einen Weg durch die kahlen Äste, bis dass ich neben ihm auf der anderen Seite stand.
Während wir langsam über den Parkplatz schlenderten, begann er, darauf los zu reden.
"Tut mir echt leid, dass ich dich alleine hab umherirren lassen; habe wirklich überall nach dir gesucht."
Ich erinnerte mich an das was Dominik mir gesagt hatte, als wir zusammen zu dem verlassenen Gemäuer gegangen waren.
Das ist der Ort an dem dich niemand finden wird, weil er schon längst von den Menschen vergessen wurde.
"Aber Köln ist leider echt groß und naja ...", fuhr Tom fort, beendete seinen Satz aber nicht.
Im Augenwinkel sah ich, wie er sich verlegen am Kopf kratze, mein Blick war jedoch noch immer auf die Stelle gerichtet, wo der Fremde mit den roten Haaren gestanden hatte.
Wie hatte er das bloß gemacht?
Und wusste Tom, dass Dominiks Gastvater sein leiblicher Vater war, der ihn und seine Mutter damals im Stich gelassen hatte? Kümmert ihn das wohl noch? Oder ist es ihm egal was sein Vater in den Staaten macht?
Haben sie wohl noch Kontakt? Ich konnte es mir kaum vorstellen, so verbittert wie Tom über ihn gesprochen hat. Aber vielleicht will dieser ja noch Kontakt zu seinem Sohn suchen... ?
"Isabell?!"
"Hmm?" Irritiert drehte ich mich zu Tom um.
"Was um Himmels Willen ist los mit dir?"
Ich machte gerade den Mund auf, um irgendetwas zu entgegnen, als ich bemerkte, dass er gar keine Antwort erwartete und eine jetzt vermutlich auch nicht sonderlich angebracht wäre.
"Ich hab gefragt, was du getrieben hast und ob es dir gut geht!"
Sollte ich jetzt ehrlich sein? Ich wollte ihn ja nicht anlügen, sah aber auch keinen Grund, weshalb ich ehrlich zu ihm sein sollte. Ich ging stark davon aus, dass weder Domi noch Tom wollen würden, dass ich jetzt von dessen Vater anfange. Vermutlich wusste er eh schon darüber Bescheid. Und wenn nicht, dann gäbe es bestimmt einen Grund dafür.
"Ich habe dich gesucht und bin ein bisschen in der Stadt rumgelaufen."
Tom nickte, musterte mich aber eine ganze Weile. Schließlich drückte er mir einen Helm in die Hand und meinte zögerlich: "Deine Sachen sind hinten drin."
Ich nickte und stieg auf.

Zwanzig Minuten später kam ich zuhause an. Aus für mich unerklärlichen Gründen ging die Heimfahrt viel zu schnell, wahrscheinlich war Tom total gerast, was mir aber nicht aufgefallen war, da es sich vertraut angefühlt hat. Doch weder der Abschied von Tom war erfreulich, noch das Zusammentreffen mit meiner Familie.
Wie der Zufall es wollte, traf ich sie natürlich beim Abendessen an, sodass ich mir die Blöße vor meiner gesamten Irrenanstalt bieten lassen musste. Tom hatten sie schon von vom Küchenfenster aus gesehen. Ich hatte ihm gesagt, er solle so schnell abhauen wie möglich, doch er schien sich nicht an dem Wutanfall und der Standpauke meines Vaters zu stören, wimmelte diesen stattdessen langsam ab und winkte mir kurz zum Abschied. Dann war er auch schon verschwunden.
Der Rest des angestauten Frustes wurde warmherzig an mir ausgelassen, bis dass ich mich aus ihrem Verhör befreite und mich schnell in meinem Zimmer im Dachgeschoss verkroch. Als ich mich auf mein Bett schmiss und mein Gesicht im Kopfkissen vergrub, war mein Kopf leer und ich schaffte es weder, einen klaren Gedanken zu fassen, noch das Geschehene Revue passieren zu lassen.
Also sparte ich mir das für die Nacht auf, welche ich somit fast schlaflos auf meiner Fensterbank, mit einem in den Sternenhimmel schweifenden Blick, verbrachte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 03, 2015 ⏰

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