Die Freie

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Nach wenigen Metern, welche ich auch eher neben dem Brett verbracht hatte, überließ ich es wieder Domi und er fuhr langsamer, sodass ich mit normaler Geschwindigkeit neben ihm herlaufen konnte. Wir ließen die Innenstadt hinter uns, der Lärm der Menschen und das Getöse des Verkehrs wurden leise.
Wir liefen einen holprigen Weg entlang, Bäume und Gras hatten wir schon längst hinter uns gelassen. Die Gegend sah aus wie eine unendlich große Baustelle und der Schutt lag überall herum. Ich denke das Wort Baustelle war die beste Beschreibung für den Anblick der sich mir bot. Einsam stand ein verrosteter Kran auf dem Haufen aus Dreck und ein paar Beton-Röhren, so groß, dass ich drin hätte schlafen können, lagen im Weg.
Domi stieg von seinem Skateboard ab als der Weg immer unbefahrbarer wurde und legte es sich über die Schulter. In etwa 10 Metern Entfernung erkannte ich dann schließlich ein kleines Gebäude, nie zu Ende gebaut worden und total verlassen. Die Wände bestanden nur aus Beton, das Dach fehlte an den meisten Stellen und anstelle von Fensterscheiben gab es nur Löcher die für diese vorgesehen waren.
"Was ist das hier?", fragte ich leise. Er rannte ein Stück vor, drehte sich dann wieder zu mir um und breitete die Arme lächelnd aus, als wolle er mir seine Villa präsentieren.
"Das", rief er mir zu, "ist der Ort an dem dich niemand finden wird, weil er schon längst von den Menschen vergessen wurde."
"Wem gehört es?"
"Eine alte Frau wollte ihrem Sohn, welcher bis zum Hals in Schulden steckte und dessen Zuhause die Straße war, eine Freude machen und fing an von ihrem Geld das Haus hier zu bauen."
Ich zögerte.
"Wieso hat sie es nicht beendet?"
Er schluckte als er sagte: "Man sagt ihr Sohn habe sich vorher das Leben genommen und sie hat das nicht verkraftet, sodass sie ans andere Ende der Welt gezogen ist um Abstand von den Erinnerungen zu bekommen."
Ich musterte ihn prüfend, konnte jedoch nicht den Hauch eines Lächelns in seinen Gesichtszügen erkennen.
"Es ist nur ein Gerücht, es wurde mir bloß so erzählt.", meinte er und lachte beim Anblick meiner Schockstarre.
"Komm mit."
Er lief auf das Gebäude zu und ließ mich in Gedanken versunken zurück. Als sich meine Panik und Furcht legten stampfte ich ihm hinterher.
Domi war mir ein gutes Stück vorraus als er sich durch das Loch in etwa zwei Metern Höhe zog, welches anscheinend für die Treppe gedacht war. Ich stellte mich darunter und blickte nach oben. Dort hockte er schon und starrte mich erwartungsfroh an. Also nahm ich mir ein Herz und sprang so hoch wie nur möglich, packte dann an den Boden des zweiten Stocks und zog mich mithilfe von ihm hoch. Ich fühlte mich wie im Kinderland, wo man durch diese Löcher immer wieder bis in die nächste Etage klettern musste. Und so ging es auch weiter, da das ganze Haus keine einzige Treppe besaß. Der Boden war aus grauem Beton, doch ab und zu konnte ich Farbe in den Augenwinkeln erkennen. Ich dachte mir aber nichts weiter dabei und folgte Domi bis auf das Dach nach dem dritten Stock. Hier oben wehte eine ziemlich starke Briese und ich war andauernd damit beschäftigt meine Haare aus dem Gesicht zu halten. Ed 2.0 war in der Zeit zum Rand des Flachdachs gelaufen und hatte sich dort mit Rucksack und Skateboard niedergelassen, seine Beine baumelten an der Betonmauer entlang. Ich gesellte mich im Schneidersitz zu ihm und wir starrte über die Baustellenlandschaft hinweg bis hin zum grünen Teil der Stadt und auch bis hin zu den nächsten Hochhäusern und Straßen. Ich genoss die Aussicht und den Wind auf meinem Gesicht, während der Geruch von Staub in der Luft lag. Ich schloss meine Augen und hörte wie Domi den Reißverschluss seines Rucksacks aufmachte. Kurz darauf wurde es dunkel vor meinen Augen und als ich sie öffnete bemerkte ich, dass er seine Hand vor mein Gesicht hielt, damit ich ihm wegen dem Sonnenstrahlentzug Aufmerksamkeit schenkte. Dann sah ich auch das Packet, mit Alufolie umwickelt, welches er hervorgekramt hatte. Ich nahm es an und öffnete es. Als mich die Schokolade förmlich anlachte machte mein Herz Luftsprünge. Domi lachte auf als er sah wie sich meine Augen gierig weiteten. Ich hielt meinen Hunger zurück und nahm nur ein kleines Stück.
"Heute mal auf die schlanke Hüfte achten, was?"
"Will dir aus Höflichkeit nur auch was übrig lassen.", entgegnete ich lächelnd.
Also verweilten wir eine Weile Schokolade futternd und uns sonnend auf dem Dach des unfertigen Hauses.
Auch ich ließ meine Beine baumeln während ich ein neues Gespräch beginnen wollte um die peinliche Stille zu überbrücken.
"Du warst also auch in den USA?"
"Sieht ganz danach aus."
Ich verdrehte lachend und seufzend gleichzeitig die Augen. "Erzähl schon, ich will Details! Wie war es so?"
Er grinste unsicher. "War super... Echt super."
Er hatte den Sarkasmus geschickt übertönt aber ich erkannte ihn dennoch; vorallem als ich sah, dass er nervös an seiner Schokolade knabberte wurde es mir klar.
"Was ist passiert?"
Domi atmete laut auf und blickte in die Luft.
"Ich weiß du kennst mich nicht", fügte ich nach einer Weile hinzu, "aber vielleicht macht es die ganze Sache ja sogar leichter."
Er überlegte lange aber seufzte dann ein letzes mal auf bevor er in seinen Redeschwall verfiel.
"Es war perfekt. Einfach perfekt. Die perfekte Schule in Michigan. Die perfekte Gastfamilie. Perfektes Wetter. Perfekte Freunde. Einfach alles in allem perfekt."
Als er eine kurze Pause einlegte, wollte ich etwas sagen, doch in dem Moment in welchem ich meinen Mund öffnete fuhr er fort.
"Bis die Baseball Saison begann. Ich hatte einen großen Freundeskreis dort drüben. Doch es gab ein Mädchen, welches ich stolz meine beste Freundin nennen konnte. Carolyn. Wollte aber nur Lyn genannt werden." Als er das sagte lächelte er kurz auf.
"Während der Baseball Saison hatte ich nach der Schule noch bis spät abends Practise, Training, und überhaupt keine Zeit für andere Sachen. In dieser Zeit trennen sich Lyns Eltern, sie hatte eine Menge Stress zuhause und ich wollte wirklich für sie da sein, doch es war einfach nicht möglich zu dem Zeitpunkt. Vielleicht hätte ich mir die Zeit nehmen sollen..."
In Gedanken versunken schüttelte er den Kopf. Ich rückte ein Stück näher, hatte einfach das Gefühl ihm zeigen zu müssen, dass er mir vertrauen konnte.
"Sie hat sich immer mehr von mir distanziert und mir sehr offensichtlich klar gemacht, dass sie das getroffen hat. Einfach nach dem Motto Wie du mir so ich dir hat sie mich total ignoriert, ging nicht mehr ans Telefon und wann immer ich sie nach einem Treffen fragte fand sie irgendeine dahergeschwafelte Ausrede. Sie blockte mich ab, wehrte sich gegen jede Art von Kontakt. Als die Saison vorbei war und ich endlich genug Zeit für sie hatte, tauchte sie plötzlich nicht mehr in der Schule auf. Ihre Mutter kam Tag für Tag mit tiefen Rändern unter den Augen und blassem Gesicht zur Schule und erklärte den Lehrern ihre Tochter sei krank. Das ging einen Monat lang so, bis dass ich es nicht mehr aushielt. Lyn antwortete auf keine meiner Nachrichten also beschloss ich sie zu besuchen. Und dort fand ich sie mit ihren neuen ... Freunden."
Man konnte Domi ansehen wie sehr es ihn anwiderte diese Leute ihre Freunde zu nennen. Er atmete durch und fuhr fort.
"Ich fand sie in ihrem Zimmer, alle total high und nicht ansprechbar. Ich habe natürlich einen totalen Aufstand gemacht und, wer hätte es gedacht, kam es zu einem ziemlich heftigen Streit. Die drei Typen, die sie ihre neuen Freunde nannte, kamen betrunken und bekifft auf mich zu gerast, beschimpften mich und naja... Das Ende der Geschichte kannst du hier sehen."
Er krempelte seine Jacke fast bis zur Schulter hoch, sodass er eine tiefe Narbe auf seinem Oberarm entblößte.
"Fensterscheiben machen sich nicht gut auf Haut." Er lachte und mir war zum Heulen zumute. Doch er fuhr fort und ließ mir keine Zeit drüber nachzudenken.
"Natürlich vollkommene Eskalation, das Police Department stattete uns einen Besuch ab. Jedenfalls war Lyn in die Drogen- und Alkoholszene abgerutscht. Ich versuchte sie immer wieder zu erreichen, mit ihr zu reden und sie aus diesem Loch herauszuziehen. Doch sie wehrte mich ab und verurteilte mich, weil ich in einer solch schweren Zeit nicht für sie da gewesen wäre. Sie kapselte sich von der Außenwelt ab und die Narben auf ihren Unterarmen häuften sich. Oft meinte sie nur, ihr Name würde nicht umsonst Die Freie bedeuten. Als mein Auslandsjahr fast vorüber war fand ich einen Brief in meinem Locker. Es war eine Art Abschiedsbrief. Sie ist mit diesen widerwärtigen Typen abgehauen. Ich habe sie nie wieder gesehen."
Er stand auf, fuhr sich mit seinen Händen durch das Gesicht, als versuche er die Fassung zu bewahren. Dann lief er an mir vorbei.
"Ich will dir was zeigen.", meinte er im Vorbeilaufen. Ich folgte ihm und sprang ungeschickt hinter ihm durch die Löcher in das Stockwerk unter uns. Er führte mich um eine Wand herum und sofort entdeckte ich es.
Das Graffiti an der Wand war ein Meisterwerk, ganz egal in welchem Zusammenhang.
Auf dem Boden unter dem Bild stand in blauer Farbe gesprüht:

Freiheit ist kein Traum - sie ist grenzenlos.
Sie liegt bloß hinter den Mauern die wir uns selber bauen.

All for my dreamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt