Der Sommer ist meine liebste Zeit im Jahr. Vielleicht mag es daran liegen, dass ich im Sommer geboren wurde. Oder vielleicht ist auch einfach die Freizeit schuld an meiner Sehnuscht nach den Sommertagen. Doch wenn ich so drüber nachdenke, sind es die Sommerabende. Im Dachgeschoss ist es tagsüber zu warm. Auch das mörderische Schwitzen draussen entspricht nicht meinem Verlangen. Ich lechzte den Tag über sehnsuchtsvoll nach der abkühlenden Nacht. Wie sich mich umarmt.
Es ist die einzige Zeit des Tages, welche ich in meinem Zimmer verbringen kann. Und man könnte meinen ich solle sie sinnvoll nutzen, in dem ich mich ausruhe, doch mir scheint nicht danach. Stattdessen öffne ich das große Dachfenster und lehne mich etwas hinaus. Die Arme zusammengefaltet auf dem Rahmen, das Kinn stützt sich ab. Von hier oben aus kann ich den Horizont sehen. Oder vielleicht bilde ich mir auch nur ein, dass er es sei. Die Gärten der gegenüberliegenden Häuser. Die meisten von ihnen haben bereits alle Jalousien heruntergefahren. Vereinzelt sieht man Licht in manchen Fenster. Man kann genau erkennen, wer gerade Fernsehen schaut, oder einfach nur ein Buch im Bett liest. An glücklichen Tagen schaue ich mit meinen Nachbarn Fußball, nur wissen sie nichts davon.
Aber meistens sind es nur ich, das grünliche Gelb am Horizont, vereinzelte kleine Lichtfunken am Himmelszelt und mein Nachbar von gegenüber. Wir unterhalten uns nicht miteinander, ein kurzes "Hallo" wenn man sich auf der Straße sieht, und ein nickender Blick, wenn die Zeit es verlangt. Doch im Großen und Ganzen sind wir nur zwei Fremde, die in derselben Siedlung wohnen. Er ist um die fünfzig, hat Frau uns Sohn, arbeitet die meiste Zeit aus dem Home Office. Ich sehe ihn, wie er an seinem festen Platz am Esstisch täglich vor seinem Laptop sitzt, während ich mich ans lernen mache. Beide fokussiert.
Das Licht am Horizont wird dunkler. Schon bald verschlingt das Grau den gelblichen Schein. Auf der Hauptstraße fahren keine Autos mehr. Die Tankstelle hat seit einer Stunde geschlossen. Ein kleines Licht brennt im Kassenhaus. Ich schließe die Augen und nehme einen tiefen Zug der erfrischenden Abendluft. Meine Gedanken spielen mit mir. Ich werde nostalgisch. Gänsehaut verteilt sich über meine Arme. Plötzlich verspüre ich den Drang etwas unternehmen zu müssen. Etwas zu ändern. Oder einfach nur zu leben.
Erinnerungen an all die Abende dort draußen in freier Natur spiegeln sich vor meinen Augen. Ich kann mein Lachen in den Ohren echoen hören. Ach wie viel der Sommer doch bieten kann. Meine Gedanken werden von dem Schieben einer schweren Terassentür unterbrochen. Er ist fertig mit arbeiten. Schaltet das Licht aus und schließt die Tür wieder hinter sich. Sein röchelnder Atmen ist bis hier oben zu hören. Normalerweise hat er einen Stuhl in seiner Garage parat, wenn er eine Raucherpause machen möchte. Doch heute trägt er Aschebecher und Kippenschachtel in der Hand und setzt sich an den Tisch.
Ich kann das Drehen des Rads an seinem Feuerzeug hören und zack knistert sie auch schon. Eine Flamme so hell wie die meiner Duftkerze. Ich schaue nach dem Rechten. Stelle fest, es ist nichts abgebrannt und sie erfüllt mein Zimmer mit einem winterlichen Duft. Schon ironisch.
Für einen kurzen Moment schauen wir uns beide an. Er mit Zigarette in Mund, ich wie ich abgestützt auf den Rahmen aus dem Fenster lehne. Mir wird unangenehm, möcht' am liebsten nicht wissen was er sich gerade von mir denkt. Mein Blick schweift in Richtung Himmelszelt. Rotes Licht blinkt, ein Flugzeug zieht vorbei. Irgendwie komme ich mir blöd vor. Er kennt mich doch. Das hier machen wir schon seit Jahren so. Bis spät in die Nacht arbeiten und wenn es zu viel wird und wir eine Pause brauchen, einfach hinaus gehen. Ich kenne seinen Rhythmus und er kennt meine Gewohnheiten.
Nach all den Jahren wird sein Husten immer schlimmer. Er bringt kaum noch einen Satz ohne Huster heraus. Dabei haben wir noch nie einen richtigen Satz miteinander ausgetauscht. Doch so ist das nun mal eben mit uns beiden. Wenn alles liegt und schläft bei Nacht und nur wir zwei noch wach sind, dann nicken wir uns kurz zu - oder jedenfalls bilde ich es mir jedes Mal ein - und gehen unserem Leben weiter nach. Dieser Gedanke gibt mir eine komische Sicherheit. Ich weiß, dass wenn alles gerade blöd läuft in meinem Leben, ich ihn beim genießen seiner letzten Kippe für den Tag, beobachten kann. Ob er die Sommerabende genauso bevorzugt wie ich? Bestimmt, denn bei Kälte kann man doch nicht entspannt Rauchen.
Und während ich weiterhin in den Sternenhimmel schaue und nach Satelliten suche, sitzt er nur schweigend am Tisch, in der einsamen Dunkelheit, und denkt nach. Von hier oben kann ich es hören. Seine Gedanken, so laut wie meine. Ich kann spüren, wie er sein Leben hinterfragt. Die Entscheidungen welche er gemacht hat. Der Frust ist ihm ins Gesicht geschrieben. Und doch sitzen wir wie fast jeden Abend hier zur selben Zeit und es ist alles so wie es immer ist und war. Mein Nachbar zieht an seinem Letzten Zug. Die Flamme schon dicht am Filter. Er nutzt sie zum vollsten aus. Ein letzter Huster, bevor er leise den Stuhl verrückt und zurück ins Haus kehrt.
Der Aschenbecher bleibt auf dem Tisch. Fürs nächste Mal. Er hinterlässt mich zurück in der dunklen Nacht. Bei offenem Fenster und Gedanken, welche ich ganz allein nicht zu entziffern vermag. Ob er vielleicht auch jemals solche Probleme mit seinen Gedanken hatte? Vielleicht hat er schon aufgegeben nach dem "was wäre wenn" zu fragen und einfach das "es ist was es ist" akzeptiert? Schon seltsam der Gedanke, dass ich in ein paar Jahrzehnten genauso wie er aussehen könnte. Eine bereits schlafende Familie im Haus. Ein anstrengender Job auf dem Esstisch im Wohnzimmer und die einzige Freiheit des Tages ein paar Minuten mit einer Zigarette.
Wer weiß, vielleicht wird mir mal ein Kind dabei zusehen, wie ich alles Erreichte still und in persönlicher Ruhe hinterfragen werde. Wir beide sind so verschieden und doch so gleich. Es jagt mir Angst ein. Angst wovor genau? Was sich für Möglichkeiten nun für mich ergeben. Seine Jalousien fahren herunter. Ich schaue ein letztes Mal in seinen Garten, bevor ich einen Schritt zurücktrete und meine Gedanken davongehen lasse. Mit einem Husten puste ich das Leben aus meiner Flamme und es bleibt nur das kleine Licht von der Tankstelle übrig. Erschöpft klettere ich in mein Bett zurück und lausche der Stille der Nacht, wie sie uns Wahnsinnig macht.
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Whispers of the stars
PuisiI am just collecting thoughts. No story. No connection between chapters. Just enjoy it or not. Idgaf