DIE BIBEL AUS ISLAMISCHER SICHT

38 0 0
                                    

Vielleicht lassen Sie sich durch die folgende These provozieren, doch irritieren lassen sollten Sie sich nicht: Die islamische Sichtweise der Bibel ist keine Außensicht. Sie ist dennoch eine andere Sicht, da hier eine andere Perspektive zum Tragen kommt. Nach dem koranischen Selbstverständnis ist nämlich die vom Propheten Muhammad verkündete Offenbarung eine Bestätigung der Thora und des Evangeliums (Sure 5,48: „... und Wir haben zu dir das Buch mit der Wahrheit hinabgesandt, damit es bestätige, was vom Buch vor ihm vorhanden war.").

Gott hat zu allen Völkern Gesandte geschickt (vgl. 10,47; 16,36; 37,72; 43,6) und an alle Gesandten Gottes und alle Offenbarungen zu glauben, ist ein Bestandteil der islamischen Glaubenslehre (Sure 3,83: „Sprich: Wir glauben an Gott und an das, was auf uns herabgesandt worden ist, und was herabgesandt worden ist auf Abraham und Ismael und Isaak und die Stämme, und was gegeben worden ist Mose und Jesu und den Propheten von ihrem Herrn, wir machen keinen Unterschied zwischen ihnen, und Ihm sind wir ergeben."). Die aus derselben Quelle entspringenden Offenbarungen weisen somit inhaltliche Gemeinsamkeiten auf. Würden sie dies nicht tun, müsste man an der gemeinsamen Herkunft zweifeln. Aus islamischer Sicht ist eindeutig: Das Evangelium ist von Allah - arab. für „der (eine) Gott". (Sure 29,46: „...Und sagt: Wir glauben an das, was zu und uns und was zu euch herabgesandt worden ist. Unser und euer Gott ist einer. Ihm sind wir ergeben.").

Die koranische Christologie

Über Jesus lesen wir im Koran, dass er ein rechtgeleiteter Prophet ist (vgl. 3,45ff.; 19,22f.), ein Gesandter an die Juden (vgl. 3,49ff.), welcher mit der Erlaubnis Gottes Wunder vollbracht hat (vgl. 5,110ff.; 19,30ff.) und dass er eine Offenbarung erhalten hat. Wir lesen auch, dass er weder Gott noch Sohn Gottes ist (vgl. 5,19, 75; 9,30). Wir finden Stellen über seine Geburt (vgl. 3,45ff.: 19,22ff.) und viele andere Stellen mehr, die seine Existenz bestätigen. Er wird im Koran oft „Jesus, der Sohn der Maria" oder „der Messias" genannt. Demnach kann aus islamischer Perspektive von einer negativen Sicht des Evangeliums oder Jesu nicht die Rede sein.

Wogegen richtet sich die islamische Kritik?

Wenn Christen kritisiert werden, dass sie die Offenbarung Gottes verfälscht haben, dann richtet sich die Kritik weder an das Evangelium, noch an Jesus. Sie richtet sich an jene Menschen/Gruppen, die damals (seit der Verkündigung des Evangeliums) verschiedenen Häresien gefolgt sind. Die Widersprüche in Bezug auf die Interpretation von Jesu Person im Horizont der biblischen Gottesvorstellung und die daraus resultierenden Kämpfe unter den christlichen Gruppen sind nicht zu verleugnen. Genau auf diese Widersprüche nimmt auch der Koran Bezug, z.B. wenn es heißt: „Und als Gott sagte: Jesus, Sohn der Maria! Hast du zu den Leuten gesagt: Nehmt mich und meine Mutter zu Göttern?" „Er sagte: Gepriesen seist Du! Ich darf nichts sagen, wozu ich kein Recht habe." (5,116). Jetzt würde jeder evangelisch-lutherische Christ fragen: „Maria, eine Göttin?" Nicht aber jene Christen des 7. Jahrhunderts auf der arabischen Halbinsel, die laut ihrem Volksglauben einem Tritheismus „Vater-Mutter-Sohn" folgten. Dieser Tritheismus (Glaube an drei Götter) war nicht identisch mit der Trinität. Eine wichtige Information für das Verstehen des Koran ist, immer wenn von „den Christen" die Rede ist, ist eine bestimmte Gruppe von Christen gemeint. Und da es verschiedene Gruppen gab, wie Kopten, Nestorianer, Melchiten sowie weitere arabisch-christliche Stämme, setzt sich der Koran an verschiedenen Stellen auch mit diesen auseinander. Auch Jesus erfüllt dabei in der koranischen Argumentation eine wichtige Funktion. So wie er von Gott als Messias zu den Juden gesandt wurde und diejenigen kritisiert hat, die die Schrift verfälscht haben, so kritisiert auch der Prophet Muhammad seine Zeitgenossen (Christen und Juden), das sie die Schrift verfälscht haben. Die Kritik richtet sich aber nicht pauschal an alle Nicht-Muslime. In Sure 3, 113ff. lesen wir: „Und sie sind nicht alle gleich. Unter den Leuten der Schrift gibt es eine Gemeinschaft... Sie glauben an Gott und den Jüngsten Tag, gebieten was recht ist und verbieten was verwerflich ist und wetteifern nach den guten Dingen..." Insbesondere zu Christen lesen wir in Sure 5,82f.: „Und du wirst sicher finden, dass diejenigen, die den Gläubigen in Liebe am nächsten stehen, die sind, die sagen: „Wir sind Christen"...

Fragen der Gegenwart

Die Gegenwart ist belastet sowohl von den historischen Ereignissen wie z.B. den Kreuzfahrerkriegen, den Osmanen vor Wien oder dem Kolonialismus, als auch von Kriegen und Terror. Die mit allen diesen Ereignissen zusammenhängenden Ursachen sind sehr komplex. Da treten die in der Regel friedliche Koexistenz verschiedener Kulturen und der wissenschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Austausch in den Hintergrund. Und gerade die heiligen Bücher, welche die Grundlagen unserer Ethik sind, werden missbraucht um die Massen der Gläubigen für politische Ziele zu mobilisieren oder zu missionieren, zu erobern, zu töten oder einfach nur um sich auf-und andere abzuwerten. Muslime können den Koran nehmen, um Christen zu beurteilen, aber auch um Muslime zu beurteilen, da der Koran der wichtigste Maßstab für ihre Religiosität ist. Und wenn wir die Bibel nehmen, dann tun wir dies auch, um Christen zu beurteilen. Denn nur dann, wenn wir die Bibel kennen, können wir urteilen, ob sich Christen an ihre Schrift halten. Müssten Christen nicht den Koran lesen, um uns zu beurteilen? Ein muslimischer Gelehrter schrieb einmal einen Aufsatz mit dem Titel „Der Koran: Ein bislang verkannter Bibelkommentar?" (Abdoldjavad Falaturi: Der Islam im Dialog. Hamburg, 1996, S. 214.). Demnach müssten Christen auch den Koran lesen, um die Bibel besser zu verstehen

Christentum aus islamischer SichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt