Die "Präexistenz" Jesu

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von Wolfgang Schneider

Einleitung

Bei einer Studie oder Erörterung der biblischen Berichte über die Person Jesu Christi steht auch heute sehr oft und auch sehr schnell die Frage nach seiner Präexistenz im Raum. Ganz besonders wird dieser Punkt von Verfechtern der Trinitätslehre betont und verteidigt, wobei sie unter einer Präexistenz Jesu seine reale Existenz als Gott von Ewigkeit her verstehen, also eine Existenz als "Gott", als ein "göttliches Wesen", als "Person der ewigen Gottheit", bevor er durch Gottes Wirken mittels des heiligen Geistes in Maria empfangen und dann 9 Monate später als "Mensch" geboren wurde.

Man sollte sich jedoch fragen, ob eine solche Lehre überhaupt mit den biblischen Berichten in Einklang steht, oder ob es eine solche Präexistenz möglicherweise biblisch gesehen gar nicht gibt. Für manche Christen grenzt eine solche Frage schon fast an "Gotteslästerung" und "Häresie", denn sie sind der Meinung, daß die Dreieinigkeits- bzw. Dreifaltigkeitslehre absolut wahr ist und keinerlei Untersuchung bzgl. ihres Wahrheitsgehalts braucht. Wir dürfen uns aber nicht von einer solchen Einstellung ablenken und nicht von einer Studie dieses Themas abhalten lassen. Wenn diese Lehre wahr ist, wird sie auch einer strengen Untersuchung anhand des biblischen Zeugnisses ohne Probleme standhalten, und am Ende werden die, die sich damit befaßt haben, lediglich gestärkt und in ihrer überzeugung gefestigt aus einer solchen Studie hervorgehen. Andererseits, wenn sich anhand des biblischen Berichts herausstellen sollte, daß diese Lehre dem biblischen Zeugnis nicht standhält, werden die, die sich damit beschäftigt haben, am Ende dennoch der Wahrheit wesentlich näher sein, als sie es zuvor waren.

Es gibt also nichts zu verlieren, außer vielleicht einem falschen Verständnis und einem Glauben an eine falsche Lehre. Daher sollten wir freimütig und ohne Angst an die Aufgabe herangehen, dieses Thema der Präexistenz Jesu anhand der biblischen Berichte genauer zu untersuchen.

Präexistenz

Bevor wir uns einigen der Schriftstellen zuwenden, die oft benutzt werden, um eine Präexistenz Jesu zu belegen, will ich zuerst die Definition des Wortes "Präexistenz" aus der Brockhaus Enzyklopädie angeben, sicherlich eine der renommiertesten Quellen für lexikalische Angelegenheiten.

Präexistenz, die Vorstellung, daß diese Welt, wichtige normative Größen (z.B. hl. Schriften), alle oder besondere Menschen »schon immer« oder »vor aller Zeit« existent waren. In monist. Religionen und Denkweisen gründet alle plurale Weltwirklichkeit in einem ewigen Prinzip oder Sein (das »Gott« entspricht), so daß sie in ihren Ursachen präexistiert (so in den fernöstl. Weltreligionen, in der griech. Philosophie seit Heraklit und Parmenides, im späteren Hellenismus und in hellenistisch beeinflußter christl. Theologie). In diesem Zusammenhang wird auch für die Menschen eine geistige (so z.B. in der griech. und hellenist. Philosophie für den vernünftigen Teil der menschl. Seele) oder auch individuell-geschichtl. P. (z.B. »Kreislauf der Existenzen« in Hinduismus, Buddhismus, modifiziert auch z.B. in der kelt. Religion; ->Karma, ->Seelenwanderung) angenommen. In Religionen, die sich um geschichtl. Phänomene oder Personen gebildet haben (v.a. die monotheist. Religionen), kann diesen P. zugeschrieben werden, selbst wenn ansonsten vergleichbare Vorstellungen fehlen. So wird in bestimmten Strömungen des Judentums die »Weisheit« oder »Thora« als präexistent aufgefaßt, im Islam der Koran, das hellenist. Christentum bildete schon in neutestamentl. Zeit im Kontext der Gottesaussage für Jesus Christus auf die Vorstellung von seiner P. aus (vgl. Phil. 2,6-8 und Prolog des Johannesevangeliums). Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bd., 17.Bd./19. Aufl., 1992, F.A. Brockhaus, Mannheim

Aus diesen Angaben erkennen wir, daß eine solche gedachte Präexistenz einer Person keineswegs eine spezifisch christliche Idee oder einzig eine christliche Lehre ist. Im Gegenteil, diese Vorstellung ist in nicht-christlichen Kreisen oder Religionen weit verbreitet, zumeist in noch ausgeprägterer Form als es beim Christentum der Fall ist.

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