Kapitel 6

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„Professor Fig!".

In der Bibliothek angekommen hatte ich ihn direkt gefunden. Gedankenverloren blätterte er in einem zerfledderten Buch mit dunklem Umschlag, das so aussah, als könnte es jeden Moment zusammenfallen.
Erwartungsvoll blickte er hoch.

„Ah, Emilia, ich wollte eh mit Ihnen sprechen! Nun, ich- Was ist denn mit Ihnen passiert?".

Besorgt weitete er die Augen.

„Deshalb wollte ich mit Ihnen sprechen, Professor. Ich wurde angegriffen."

„Angegriffen?", sofort klappte er das Buch zu und verstaute es unsanft in seiner Umhängetasche, „Aber von wem?".

„Ich kannte den Mann nicht. Er... Er war groß und sah ziemlich... naja heruntergekommen aus."

„Ein Wilderer? Sagen Sie, geht es Ihnen gut?", wollte er eilig wissen.

„Ja, ich denke schon. Aber ich bin besorgt. Er sagte etwas von Ranrok."

Bei dem Namen zuckte Professor Fig zusammen.

„Und er erwähnte den Anhänger. -Diesen Anhänger!", fuhr ich fort und zog die längliche Kette unter meinem schon längst nicht mehr weißem Hemd hervor, „Ich hatte Glück, er hat ihn nicht gesehen. Aber er hat danach verlangt! Was haben wir bloß getan? Wir hätten ihn nicht mitnehmen dürfen!".

Meine Stimme überschlug sich beinahe. Mir schien, als würde die Angst, die ich unterdrückt hatte, um klar denken zu können, mich nun einholen und mich niederdrücken.

„Beruhigen Sie sich", sagte Professor Fig sanft und legte tröstend seine Hand auf meine Schulter.

Mit festem Blick sah er mich an.

„Nun haben Sie nichts mehr zu befürchten! Es war wichtig, dass wir diesen Anhänger aus der Höhle mitgenommen haben, verstehen Sie, Emilia?"

„Aber wieso? Was ist an diesem Ding so gefährlich, sollte es in Ranroks Hände geraten und wieso wollen sie ihn unbedingt zurück?".

„Leider habe ich keine Antworten auf alle Fragen, obwohl es Ihnen zustehen würde", lächelte er traurig, „Dass dieser Anhänger Ihrer Mutter gehörte, wissen Sie bereits. Und in Anbetracht der Tatsache, dass Sie ihn ununterbrochen an sich tragen, wage ich zu behaupten, dass er Ihnen sehr viel bedeutet."

Ich schluckte. Natürlich tat er das. Er war das Letzte, was ich von meinen Eltern besaß. Als wir ihn in der Höhle entdeckten, ließ mich das Gefühl nicht los, es sei kein Zufall gewesen, sondern dass Fig mit mir explizit nach dem Schmuckstück gesucht hatte.
Wieso hatte er mich im Dunkeln gelassen? Ich wusste bereits, dass ich ihm vertrauen konnte, er war ein guter Mensch. Aber wieso verheimlichte er Dinge vor mir?

„Ranrok will diesen Anhänger."

„Ich weiß", seufzte er, „Aber -sehen Sie mich an, Emilia- den darf er unter gar keinen Umständen bekommen, verstehen Sie? Das ist wichtig."

„Aber wieso? Was ist an ihm so besonders?", fragte ich verzweifelt.

Langsam hatte ich die Nase voll davon, nichts zu wissen. Ich wollte Antworten.

„Das werde ich herausfinden. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich Sie aufklären. Haben Sie Geduld, ich verspreche es. Bis dahin: Passen Sie gut darauf auf."

„Verzeihen Sie Professor, aber haben wir uns dadurch nicht zur Zielscheibe gemacht? Haben Sie MICH dadurch nicht zur Zielscheibe gemacht?".

Eine lange Zeit sahen wir uns an. Irgendwann fing er an zu lächeln.

„Ich habe größtes Vertrauen in Sie", murmelte er aufmunternd, „Halten Sie sich an Ihre Freunde. Denn unsere Freunde werden wir brauchen in diesen dunklen Zeiten. Ich muss nun in mein Büro und einer wichtigen Spur nachgehen. Wissen Sie, dass ich jederzeit für Sie da bin."

Sebastian Sallow: Souls don't meet by accidentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt