17. Kapitel

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Sie wechseln kein Wort miteinander. Die Morgensonne steigt immer höher, doch im Schatten der Bäume bleibt die klirrende Kälte der Nacht länger erhalten. Flo fröstelt und verschränkt seine Arme vor dem Körper, doch wird ihm nicht wärmer. David, der mit schnellem Schritt vor ihm herläuft und den Weg durch das Dickicht bahnt, scheint von der Kälte unberührt zu sein, obwohl sein Oberkörper noch immer unbekleidet ist. Seine Hose ist zerrissen, mit Ruß bedeckt und von seinem eigenen Blut besudelt.

In der Stille erscheint Flo das Knurren seines Magens wie das Geräusch eines im Dickicht lauernden Raubtieres. Ein Raubtier, das zwei schutzlose Männer dabei beobachtet, wie sie ohne Ziel in einen immer dichter werdenden Wald irren. In ihren Zustand würde sich keiner von ihnen verteidigen können. Panisch sieht er sich im dichten Wald um, kann aber nirgends eine Gefahr erkennen. Weder Tier noch Mensch kreuzt ihren Weg.

Die Erinnerung der letzten Stunden kommt Flo wie ein Traum vor. Immer wieder hat er das Bedürfnis, sich zu versichern, dass er wirklich nicht am Schlafen ist. Er erwischt sich bei der Hoffnung, dass sie in Wirklichkeit beide noch in der sicheren Kutsche schlummern, und bald den Hof des Königs erreichen. Keine Toten, keine Banditen und kein Wagen, der sich auf unerklärliche Weise selbst in Brand setzt. Nur er und David in einer rasselnden, gut geschützten Kutsche.

Die Wunden an Davids Rücken haben aufgehört zu bluten. Erst jetzt kann Flo erkennen, wie tief einige Schnitte sind. Ganze Teile seines Fleisches liegen hinter den glühend roten Hautfetzen offen. Trotzdem läuft er standhaft immer weiter, als wären die Fleischwunden nichts als ein paar oberflächliche Kratzer. Er müsste tot sein. Niemand überlebt lange mit solchen Wunden. Er dürfte sich nicht einmal mehr selbstständig bewegen können.

Er will ihn fragen, ob es ihm gut geht. Aber er wagt es nicht, seinen Mund zu öffnen. Immer wieder sieht er die brennende Kutsche und riecht den Gestank von verkohltem Menschenfleisch. Mehrmals wird ihm übel und er muss sich an einem Baumstamm übergeben. David bleibt nicht stehen, wendet ihm nicht einmal einen kurzen Blick zu, sondern geht einfach weiter in den dunklen Wald hinein. Immer weiter.

An einer Waldlichtung hält er dann plötzlich inne. Er wankt, will sich an einem Stamm halten und fällt ungebremst nach vorne in das Gras. Reglos bleibt er liegen. Es geschieht so plötzlich, dass Flo es beinahe nicht glaubt. Doch dann packt ihn die nackte Angst. Panisch und mit rasendem Atem kniet sich Flo neben den reglosen Körper und ruft seinen Namen.

„David, wach auf! Bitte!"

Mehrmals, und immer lauter. Doch David rührt sich nicht.

Panik ergreift Flo, als ob ein Messer in seinem Körper stecken würde, ihn aber nicht tötet. Er ruft seinen Namen, rüttelt an seinem schlaffen Körper und dreht ihn mit aller Kraft auf den Rücken. Seine Augen sind geschlossen.

Er ist tot.

Er ist tot.

Flo will vor Verzweiflung losschreien. Aber er hält sich zurück. Ein Schrei würde nur wilde Tiere anlocken, falls sie bis jetzt unbemerkt geblieben sind. Dann würde auch er sterben. Zerrissen und blutig im Maul eines Bären. Und zum ersten Mal seit dem Tod von Mona ist der Gedanke an sein eigenes Ableben etwas, das ihm Angst macht. Irgendwie hat er es geschafft, wieder den Willen zu Leben zu schöpfen - trotz allem, was ihm geschehen ist. Ich will nicht sterben, denkt er trotzig. Nach allem, was geschehen ist, will ich nicht einfach in irgendeinem Wald verrecken.

Er legt seine Hand auf Davids blasse Stirn und zuckt zurück. Seine Haut ist glühend heiß und Flo kann ein sanftes Zucken spüren, als er ihn berührt. Er horcht an seinen leicht geöffneten Mund und spürt einen schwachen Atemzug an seiner Wange.

David ist noch am Leben. Aber nicht mehr lange, wenn er nichts unternimmt. Und er weiß, dass er schnell sein muss.

Er steht auf und sieht sich um. Am Rand der Lichtung fließt ein von hohen Gräsern versteckter Bach. Er wäscht das Blut und den Dreck von seinen Händen und schöpft das kalte Wasser, dass ihm sogleich durch die schwachen Finger rinnen will. Vorsichtig, aber doch in Eile bringt er es zu David und träufelt es auf seine Lippen. Dann richtet er seinen Kopf auf und sorgt dafür, dass er es schluckt. Sofort bringt er mehr Wasser, träufelt es auf seine Lippen und kühlt seine glühende Haut. Er fühlt sich an, als ob er brennt.

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⏰ Letzte Aktualisierung: 4 days ago ⏰

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