Kapitel 14 - Das Vermächtnis des Bären

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Berlin, Allianz Deutscher Länder (ADL)
Freitag, 26. August 2061, 11:43 Uhr

Schweigsam blickte Marie durch die Fenster des Campers hinaus und lies die Straßenzüge Berlins an sich vorbeizeihen. Sie blickte auf alles zurück, was sie erlebt hatte und es kam ihr so vor, als ob sie an alle Geschehnisse gleichzeitig denken musste. All die großen und kleinen Dinge, die Freude und Begeisterung, die sie empfunden hatte und die traurigen und leidvollen Momente, die sie erdulden musste kamen ihr in den Sinn. Alles schien in ihrem Kopf zu einem einzigen Ganzen zu verschmelzen, von dem sie noch nicht wusste, ob es etwas Gutes oder etwas Schlechtes war.

In ihrer Erinnerung sah sie sich unbeschwert mit Jannes zwischen den Sandsteinfelsen bei Rathen herumtoben und durch die Heringshöhle bei Stadt Wehlen krabbeln. Nochmals blickte sie in Jannes Augen, als er an der Idagrotte fast in den Tod gestürzt wäre. Sie fuhr noch einmal mit der Kirnitzschtalbahn und konnte das Horn des Elbdampfers Dresden hören. Aber auch die dramatischen Ereignisse auf dem Dampfschiff und auf dem Parkplatz danach wurden immer wieder in ihrer Erinnerung wachgerufen. Und sie dachte an die Begegnung mit dem mächtigen Bären, der ihr im Traum erscheinen war und der sie fortan in ihren Gedanken begleitete.

Unter großen Tränen hatte sie sich von Jannes am Abend zuvor verabschieden müssen, als der Junge von seinem Onkel im Klinikum Pirna abgeholt wurde. Dabei erinnerte sie sich auch an den Augenblick zurück, in dem sich Robert und Issandra leidenschaftlich geküsst hatten. Schon sah sie die große Glasscheibe vor Augen, durch die sie zusammen mit Jannes in jenen Raum blicken konnte, in dem sein Vater lag und mit unzähligen Kabeln und Schläuchen an verschiedenste Maschinen und Geräte angeschlossen war.

Das Mädchen hatte das Gefühl Freude und Trauer, alles und nichts gleichzeitig zu empfinden. Alles schien gegenwärtig und doch so unendlich weit weg zu sein und erst recht wusste sie noch nicht, was genau sie nach ihrer Rückkehr mit sich und der restlichen Welt anstellen sollte.

Plötzlich durchfuhr Marie ein sanfter Ruck. Die Umgebung um sie herum war zum Stehen gekommen und sie erkannte die Fassade von Garys Hotel. Doch sie konnte es noch nicht begreifen, wieder daheim zu sein. Zweifelnd sah sie Issandra von der Seite mit großen Augen an.

„Wir sind wieder da, Marie", sagte sie mit sanfter Stimme. „Du magst noch gar nicht aussteigen, stimmts?"
Aber das Mädchen brachte keine Silbe über ihre Lippen. Stattdessen kullerten ihr dicke Tränen aus den Augen und rollten an ihren Wangen herab.
„Tante Issandra", brachte sie nur heraus und beugte sich zu ihr hinüber.
Eine ganze Weile lagen sich die Beiden in den Armen, während Maries Tränen auf Issandras Schulter tropften und an ihrem Oberarm herunterliefen.

„Jannes hat vielleicht bald auch keinen Vater mehr?", schluchzte das Mädchen leise.
„Das weiß ich nicht, Marie", antwortete Issandra sanft. „Er ist noch sehr schwach und liegt im Koma und wir werden wohl erst in einigen Tagen erfahren, ob es ihm wieder besser gehen wird oder ob er ...", unterbrach sie sich selbst und wischte sich einige Tränen aus den Augen.

„Da waren doch die vielen Schläuche und die Kabel in der Klinik."
„Ja, diese Maschinen halten seinen Körper am Leben, aber ob sein Verstand und seine Gefühle wieder zurückkehren werden, vermag jetzt noch niemand zu sagen, weißt du."
„Und wenn ich ganz fest daran denke, vielleicht klappt es ja dann."
„Ja, vielleicht. Na klar. Denke ruhig so oft und so fest du möchtest an Jannes und seinen Vater", antwortete Issandra und strich Marie über ihre dunklen Locken.

„Das habe ich auch gestern Abend schon getan. In der Klinik, vor der großen Glasscheibe!"
„Was meinst du damit?", fragte die Blondine.
„Na da habe ich mir ganz, ganz sehr gewünscht, dass Robert bald wieder aufwachen kann und gesund wird", antwortete Marie. „Und dann war auf einmal alles ganz komisch."
„Ganz komisch?", fragte Issandra zurück. „Was war denn dann, komisch?"
„Naja, da war so ein Kribbeln und später wurde mir auf einmal ganz sehr schwindlig."

Schattenhelden - Blutige FerienWo Geschichten leben. Entdecke jetzt