Wendepunkt

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Der Wecker, der unaufhörlich klingelte, ließ mich verzweifelt aufstöhnen und ich rieb mir über das Gesicht, während ich mich umdrehte, um den Arm um Harry zu legen. Noch fünf Minuten kuscheln. Noch fünf Minuten die wundervolle Wärme und seinen unglaublichen Duft genießen, ehe der Tag uns wieder fest im Griff haben würde. Doch zu meiner großen Frustration griff ich ins Leere. 

Müde schlug ich die Augen auf, während mein Kopf dröhnte und mein ganzer Körper nach Wasser schrie nach dieser Nacht, die wir im Playhouse verbracht hatten. Die Bettseite, die sonst der Lockenkopf einnahm, war leer und kalt. Ich seufzte leise. "Baby?!" rief ich, doch bekam keine Reaktion, drehte mich auf den Rücken und atmete tief durch. Dieser Kater, der nicht mehr nur anrollte, sondern bereits da war, war mit Abstand der Schlimmste, den ich je hatte. Und er hätte zu keinem schlechteren Zeitpunkt kommen können. 
"Hazza!" rief ich erneut, doch statt einer Antwort, hörte ich aus dem Badezimmer Würgegeräusche, die mich sofort dazu brachten, aufzustehen. Anscheinend ging es noch jemandem hier nicht besonders gut. 

Ich klopfte zunächst an die Badezimmertür, die nur angelehnt war, bevor ich eintrat. Sofort stieg mir der Geruch von Erbrochenem in die Nase und mir wurde schlecht, doch dann sah ich Harry, der über die Kloschüssel gebeugt war. Seine Hände krallte er in das Porzellan und er schien sich die Seele aus dem Leib zu brechen. 
"Oh Baby", sagte ich sanft und ging sofort zu ihm, strich ihm die Haare nach hinten und hielt sie fest, während ich mit der anderen Hand sanft seinen Rücken streichelte. Er seufzte auf und lehnte sich an mich, nahm einen tiefen Atemzug. 
"Scheiß Alkohol", presste er hervor, ehe er erneut die Schüssel füllte. Wenn ich sagen würde, dass mich das nicht beinahe dazu brachte, es ihm gleich zu tun, wäre das eine große Lüge. Mir wurde automatisch schlecht. Harry sah hoch zu mir und seine Augen waren wässrig, rot unterlaufen. 
"Ich will ja nichts sagen, aber du siehst echt nicht gut aus", murmelte ich mit einem sanften Lächeln. 

Er lachte leise und nickte. "Ich fühle mich elend. Deine drei Freunde, die kriegen was zu hören, also Sambuca ist ja wohl das größte Gift, dass ich je geschmeckt habe!" brachte er gequält hervor und lehnte den Kopf gegen meine Brust. Zärtlich strich ich ihm durch die Haare, platzierte einen Kuss auf seinem Kopf. 
"Sie haben das für uns getan. Sie wollten uns eine Freude machen", entgegnete ich und er nickte leicht. "Ich weiß und ich liebe sie dafür auch", sagte er sofort, hing ein Seufzen hinten dran. "Aber Sambuca? Ehrlich?!" 
Ich lachte leise. "Nun, wir hätten es ja nicht trinken müssen, oder?" gab ich zu Bedenken, woraufhin er mich genervt ansah. "Sei nicht so erwachsen!" fuhr er mich spielerisch an, ließ mich erneut lachen. 
"Wir sollten duschen, Haz. Heute ist ein sehr wichtiger Tag", erinnerte ich ihn und er riss panisch die Augen auf. "Scheiße, na eben!" rief er aus. "Wie sollen wir einen guten Eindruck machen, wenn wir uns die Seele aus dem Leib kotzen?!" 
Ich schmunzelte. "Du kotzt dir die Seele aus dem Leib, ich nicht!" neckte ich ihn, küsste seine Stirn und wir standen gemeinsam langsam auf. 

"Willst du zuerst duschen?" fragte er mich, sah im Gesicht ein wenig gräulich aus und für einen Moment machte ich mir Sorgen, dass er überhaupt gerade stehen konnte. Ich schüttelte den Kopf. "Nein, ich mache uns jetzt einen schönen Kaffee, geh du duschen. Ich komme dann nach", sagte ich mit einem Zwinkern, für welches ich ein dankbares Grinsen erntete. 
Trotz der Kopfschmerzen hatte ich ein Lächeln im Gesicht, denn der heutige Tag war wichtig und er hatte das Potenzial, ein ganz besonderer Wendepunkt in Harry's und meinem Leben zu werden. So lange hatten wir gewartet, nun waren wir unserem größten Wunsch ein ganzes Stück näher gekommen und ich konnte den heutigen Termin kaum abwarten. 

Umso mehr Mühe gab ich mir, uns einen Kaffee zuzubereiten, der uns besonders wach und aufnahmefähig machen würde. Natürlich konnte man mit Harry's Filterkaffeemaschine weit weniger anstellen, doch heute war es genau das, was wir brauchten. Aufwändige Kreationen, die ich sonst immer wieder neu erfand und ihm vor die Nase hielt, waren heute unangebracht. Es brauchte einen extra starken Kaffee aus einer alten Maschine, die ihre besten Jahre bereits hinter sich hatte. Ich als Barista konnte das am Besten einschätzen. Also setzte ich eine Kanne auf, ehe ich mich meiner Kleidung entledigte und zu Harry unter die Dusche stieg. 
Der Grünäugige stand mit Zahnbürste im Mund unter dem heißen Strahl und sah müde zu mir, doch seine Augen leuchteten sofort auf, während er mich musterte. Ich lachte leise. "Vergiss es, wir müssen unsere Kräfte aufsparen!" mahnte ich ihn spielerisch. 
Er beendete das Zähneputzen, dann zog er mich an sich und strich mir über die Wange. "Denkst du, wir bekommen heute eine gute Nachricht?" fragte er leise und rieb seine Nasenspitze ganz sanft an meiner. 
Ich seufzte leise und nickte. "Ich hoffe es", hauchte ich. 

Sanft küssten wir uns, dann wuschen wir uns gegenseitig, so wie wir es oft taten. Es waren diese wenigen Minuten unter der Dusche, die ganz allein uns gehörten. Wo wir alles um uns herum vergessen konnten und uns die Zärtlichkeiten schenkten, die manchmal im Alltag untergingen. Als wir fertig waren, küsste er mich liebevoll und sah mir in die Augen. Grün traf Blau und es sendete einen Schauer meine Wirbelsäule entlang. Er hatte eine Wirkung auf mich, die unerklärlich war, auch jetzt noch. Harry war der Mann meines Lebens, da gab es keinen Zweifel. 
"Ich liebe dich", flüsterte er, zauberte mir ein Lächeln auf das Gesicht. 
"Ich liebe dich auch", hauchte ich. "Und jetzt komm, der Kaffee ist fertig und wir müssen bald los, wir sollten um jeden Preis pünktlich sein!" fügte ich hinzu. Der Lockenkopf nickte ganz ernst und wir stiegen aus der Dusche. 

Eine Stunde, mehrere Tassen starker Kaffee und einer ausgiebig Runde Kuscheln später standen wir beide vor dem großen, in die Jahre gekommen Gebäude in der Innenstadt von Manchester, in welchem wir in wenigen Minuten den vermutlich wichtigsten Termin unseres Lebens haben würden. Ich war nervös, krallte mich in Harry's Hand und sah hoch zu ihm. Er wirkte ebenso nervös und sah mich an. "Heute werden wir vielleicht eine echte Familie, Lou", hauchte er und ich lächelte sofort und nickte. "Ich kann's kaum erwarten." 
Sanft küssten wir uns, dann stiegen wir die Treppen hoch zum Eingang der Adoptionsagentur. 

Mit einem Mal stolperte Harry und ich konnte ihn gerade noch festhalten, bevor er der Länge nach hingefallen wäre. Erschrocken hielt ich ihn fest und er kniff die Augen zusammen, krallte sich in meinen Arm. 
"Baby, was ist?!" fragte ich ihn alarmiert und mein Puls schoss in die Höhe. Er stellte sich wieder aufrecht hin und rieb sich die Augen, sah ein wenig überfordert zu mir. "Ich weiß auch nicht, ich habe irgendwie gerade kurz Sehprobleme gehabt", sagte er und zuckte mit den Schultern. "Ich werde nie wieder Schnaps trinken, ehrlich!" Er lachte leicht und ich nickte und schmunzelte, griff seine Hand fester. "Solltest du vielleicht lassen, wenn du dann sogar Sehstörungen bekommst", scherzte ich, gefolgt von einem nervösen Lacher. Er nickte, ehe er mir die Tür aufhielt und wir gemeinsam in die Agentur liefen und uns anmeldeten. 

Nur wenige Minuten später wurden wir von unserer Sachbearbeiterin, Chloe, abgeholt, die uns mit freundlichem Lächeln in ihr Büro bat. Ich sah zu Harry, der angespannt wirkte. "Alles wird gut, ja?" fragte ich ihn. Er sah sofort zu mir, sein Blick fragend. "Egal, was sie jetzt sagt, es ändert nichts zwischen uns, oder?" fragte ich leise. 
Er schüttelte sofort den Kopf. "Niemals wird es etwas zwischen uns ändern, Darling. Ich werde für immer bei dir sein, ob wir ein Kind bekommen oder nicht, verstanden?" sagte er sofort und legte den Arm fest um mich. 
"Dann trifft es sich ja trotzdem hervorragend, dass ich gute Neuigkeiten für sie habe!" sagte Chloe und unsere Blicke schossen sofort in ihre Richtung. 
Mit einem entspannten Lächeln lief sie zu ihrem Schreibtisch, vor dem wir uns hinsetzten und sie mit großen Augen ansahen. Sie öffnete eine Aktenmappe und zog ein Bild hervor, dass sie vor uns auf den Schreibtisch legte.
"Das hier ist Sarah." 

Mit zittrigen Händen, die fest in denen von Harry lagen, blickte ich auf das Bild vor uns. Darauf zu sehen war ein wunderschönes, kleines Mädchen mit dunkelbraunen Haaren und hellgrünen Augen, die schüchtern in die Kamera lächelte und dabei einen weißen Stoffhasen in den Armen hielt, welchen sie fest an ihren Körper drückte. 
"Wie alt ist sie?" fragte Harry leise und nahm vorsichtig das Bild in seine Hand. 
"Sie ist vier Jahre alt. Ihre Eltern sind beide drogenabhängig, wir haben sie vor ein paar Tagen aus deren Wohnung geholt, seitdem ist sie in unserer Obhut. Ich glaube, dass Sie beide ein gutes Match wären. Die Kleine ist recht schüchtern, aber ganz lieb und sie braucht liebende Eltern, die sich um sie kümmern", erklärte Chloe.
Sofort sah ich zu ihr. "Das können wir! Wir, wir kümmern uns, nicht wahr Harry?!" Ich sah zu ihm, doch er antwortete nicht. Er starrte das Bild an, in seinen Augen glänzten Tränen und seinen Mund umspielte ein sanftes Lächeln. Auch mir kamen die Tränen, denn ich konnte mein Glück kaum fassen. 

"Haz?" fragte ich leise nach. 
Er sah nun doch endlich zu mir, direkt in meine Augen und wir beide schienen völlig überwältigt zu sein. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass wir heute bereits eine konkrete Antwort haben würden. Ich hatte gehofft, dass wir eine positive Nachricht erhalten würden, ja, dass irgendwann ein Kind für uns käme, doch da war sie. Da war Sarah und wartete bereits auf uns. 
"Wir bekommen ein Kind", hauchte Harry glücklich und wirkte, als könne er nicht glauben, was er da sagte. Ich nickte sofort.
"Ja, Haz. Wir werden eine richtige Familie." 

The Love It Takes | L.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt