Die Wochen im Tempel des Frühlings zogen rasch vorbei, und Rosalié spürte, wie sich ihre Fähigkeiten unter Florinas Anleitung stark weiterentwickelten. Morgens begann ihr Training oft mit Meditation, gefolgt von Übungen, die ihr halfen, die Energie der Natur um sich herum zu spüren und zu lenken. Florina war geduldig, erklärte jede Technik mit einer sanften Stimme, die wie der Gesang der Vögel klang.
„Du musst dich mit der Erde verbinden, um ihre Kraft zu verstehen", sagte Florina, während sie zusammen im Garten standen, umgeben von duftenden Blüten und sprudelndem Wasser. Rosalié schloss die Augen und konzentrierte sich, bis sie das Pulsieren der Erde unter ihren Füßen spürte. Es war, als würde die Natur selbst ihr zuflüstern, und sie fühlte sich immer mehr in ihrer Rolle verwurzelt.
Nach den intensiven Trainingseinheiten fanden Rosalié und Florina oft Ruhe bei einem einfachen, aber köstlichen Abendessen, das aus frischen Früchten, knackigem Gemüse und duftenden Kräutern bestand. Der Duft des Essens mischte sich mit dem süßen Aroma des Frühlings, während die letzten Sonnenstrahlen den Himmel in sanfte Goldtöne tauchten.
Eines Abends, während sie an einem mit bunten Blumen geschmückten Tisch saßen, blickte Florina nachdenklich über die Tafel. „Orin ist ein faszinierender Gott", begann sie, ihre Stimme sanft und eindringlich. „Er ist der Gott der Erde. Edda war oft in seiner Nähe, und ich glaube, ihre Beziehung war von einer komplexen Dynamik geprägt." Rosalié lauschte gespannt, während sie einen saftigen Pfirsich auf ihrer Gabel anstach. „Was meinst du damit?"
„Es gibt viele Geschichten über sie", fuhr Florina fort. „Einige behaupten, dass Orin Edda bewunderte, weil sie die Natur beherrschte und die Fähigkeit hatte, das Gleichgewicht zwischen Licht und Schatten zu wahren. Aber es gibt auch Gerüchte, dass er aus Neid auf ihre Macht und ihren Einfluss Handlungen plante, die zu ihrem Tod führten. Er sah die Göttinnen als Bedrohung für seine Herrschaft über die Welt und wollte die Kontrolle über alles, was lebte und wuchs." Rosaliés Gedanken rasten. „Das klingt schrecklich! Aber was könnte ihn dazu treiben, so etwas zu tun?"
„Die Angst vor dem Verlust der Macht kann selbst die größten Götter in die Irre führen", antwortete Florina, während sie nachdenklich einen Schluck aus ihrem Becher nahm. „Manchmal lassen sich Götter von ihrem Stolz leiten. Es wird gemunkelt, dass Orin seine Macht durch Angst und Respekt sichern wollte. Die Geschichten, die ich gehört habe, erzählen von seiner Besessenheit, alles zu kontrollieren, und von dem Drang, jede Bedrohung zu beseitigen." Rosalié fühlte, wie sich eine Welle der Traurigkeit in ihr aufstaute. „Das ist so tragisch. Edda hat so viel für den Wald und die Menschen getan. Sie hätte niemals so enden sollen."
Florina nickte zustimmend. „Ja, und ich fürchte, dass die Schatten, die sie hinterlassen hat, uns weiterhin verfolgen werden. Wenn Orin wirklich hinter all dem steckt, müssen wir vorsichtig sein. Wir können nicht zulassen, dass seine Gier nach Macht das Gleichgewicht der Natur erneut stört."
Ein Stille legte sich über den Tisch, während beide Frauen über die Schwere der Situation nachdachten. Schließlich brach Florina das Schweigen mit einem sanften Lächeln. „Aber wir müssen auch die Hoffnung nicht vergessen. Edda hat ihre Macht an dich weitergegeben, Rosalié. Du trägst jetzt ein Stück ihres Erbes in dir, und das ist eine große Verantwortung." Rosalié spürte ein leichtes Kribbeln in ihrem Herzen. „Ich werde mein Bestes tun, um dem gerecht zu werden", versprach sie. „Edda hat uns nicht verlassen, sie lebt in mir weiter."
Die Gespräche um den Tisch herum waren oft geprägt von tiefem Nachdenken und manchmal auch von Lachen. An einem anderen Abend, als sie wieder zusammen saßen, wies Florina auf die Musik in der Luft hin. „Die Göttin der Musik, Lyra, ist eine der besten Göttinnen, die ich kenne!", rief sie begeistert aus. „Sie hat eine Melodie für jede Jahreszeit und kann die Herzen der Menschen mit ihrem Gesang berühren. Wenn sie singt, fühlt es sich an, als würde die ganze Welt innehalten und zuhören." Rosalié lachte. „Was macht sie denn so besonders?"
„Nun, ihre Musik kann selbst die grimmigsten Herzen erweichen. Es wird gesagt, dass sie einmal eine ganze Armee davon überzeugt hat, ihre Waffen niederzulegen und zu tanzen! Stell dir das vor!", erzählte Florina, ihre Augen funkelten vor Freude. „Ich liebe es, mit ihr zu musizieren, besonders im Frühling, wenn alles blüht und die Luft voller Leben ist." Die Abende im Tempel waren erfüllt von solchen Geschichten und dem Austausch von Erinnerungen.
Doch an einem klaren Morgen, als die Sonne gerade über dem Horizont aufging und die Vögel ein fröhliches Lied sangen, änderte sich die Atmosphäre plötzlich. Aus dem Wasser des nahegelegenen Baches traten drei Gestalten hervor, die die beiden Frauen sofort in ihren Bann zogen. Angeführt wurde die Gruppe von Nereus, dem Gott des Wassers. Er war majestätisch, mit einem Körper, der wie flüssiges Silber schimmerte, und seinen Augen blitze die Tiefe des Ozeans. Sein Haar fiel wie Wasserfälle über seine Schultern, und jede seiner Bewegungen strahlte eine ruhige Autorität aus.
Hinter ihm standen zwei Krieger, die Thalassios und Mareos hießen. Thalassios war groß und muskulös, seine Rüstung schimmerte wie das Meer unter dem Licht der Sonne, während Mareos mit einem verschmitzten Grinsen und schelmischen Augen die ganze Szenerie auflockerte. Seine Bewegungen waren schnell und präzise, fast wie die Wellen des Wassers, die er repräsentierte.
„Nereus!", rief Florina, ihre Stimme überrascht, aber auch freudig. „Was bringt dich hierher?"
„Ich komme mit beunruhigenden Nachrichten", sagte Nereus ernst und ließ den humorvollen Ton der Situation schnell schwinden. Die Worte von Nereus hingen schwer in der Luft, und die Atmosphäre im Tempel veränderte sich augenblicklich. Rosalié spürte, wie ihr Herz schneller schlug, und die Freude des gemeinsamen Abendessens schien in einen kalten Schatten überzugehen. Florina, die immer so strahlend und lebhaft gewesen war, hatte ihre Miene in einen ernsten Ausdruck verwandelt, der die Dringlichkeit der Situation widerspiegelte.
„Nereus, was ist geschehen?", fragte Florina mit besorgter Stimme. Ihre Augen, normalerweise voller Licht und Lächeln, hatten einen besorgten Glanz angenommen.
Rosalié konnte die Anspannung in der Luft förmlich greifen. Sie fühlte sich wie eine Marionette, deren Fäden plötzlich zu straff gezogen wurden. Die Leichtigkeit ihrer bisherigen Tage war einem drängenden Gefühl der Sorge gewichen. Die beiden Krieger hinter Nereus, Thalassios und Mareos, standen still und aufmerksam, ihre Blicke auf die Göttinnen gerichtet. Thalassios, mit seinem muskulösen Körper und der strahlenden Rüstung, strahlte eine ruhige Stärke aus. Mareos, mit seinem schelmischen Lächeln, hatte sich auf eine Weise in die Dunkelheit zurückgezogen, die seine eigene Nervosität verriet.
Nereus trat einen Schritt vor, seine Augen wie das tiefste Wasser, das die Geheimnisse des Ozeans verbarg. „Es ist wichtig, dass wir sprechen, aber nicht hier und jetzt", sagte er schließlich, seine Stimme fest, aber sanft. „Es gibt Dinge, die besprochen werden müssen, bevor wir alle die Tragweite der Nachrichten verstehen." Florina nickte, ihre Augen voller Entschlossenheit. „Wir sind bereit, dir zuzuhören. Lass uns hinein gehen."
Rosalié war hin- und hergerissen. Einerseits verspürte sie das Bedürfnis, die Nachrichten sofort zu erfahren, aber andererseits wusste sie, dass es möglicherweise noch nicht an der Zeit war, sich mit der dunklen Wahrheit auseinanderzusetzen. Es gab noch so viel, was sie nicht wusste, und die Angst vor dem Unbekannten machte es schwer, klar zu denken. „Komm mit uns", sagte Florina und führte die Gruppe in einen abgeschiedenen Teil des Tempels, wo die Luft kühl und still war. Die sanften Klänge des Wassers um sie herum schufen eine beruhigende Kulisse, aber der Schatten der bevorstehenden Enthüllung blieb über ihnen hängen. Als sie den Raum betraten, war die Atmosphäre angespannt, und alle wussten, dass sie sich nun einem Moment der Wahrheit nähern würden.
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God's Love
FantasyDie Göttin des Waldes Edda wird getötet, doch bevor sie dir Welt verlässt, erwählt sie eine Nachfolgerin. Die Menschenfrau Rosaliè. Völlig überfordert mit ihrem neuen Leben als Göttin des Waldes wird sie mitten in einen bevorstehenden Krieg zwische...