Elea hielt es nicht mehr aus. Seit Tagen nagten die Gedanken an ihr, quälten sie unaufhörlich, ließen sie kaum noch atmen. Die Erinnerungen. Die Kette. Immer wieder tauchte sie in ihrem Kopf auf, wie ein Schatten, der sie verfolgt. Die einzige Verbindung, die noch zwischen ihr und Reeve bestand. War sie der Schlüssel, um ihn endlich loszuwerden? Ihre Finger strichen über die leere Stelle an ihrem Hals, wo das Schmuckstück einst gelegen hatte, als könnte sie dadurch die Antwort heraufbeschwören.
Ihr Herz verkrampfte sich bei dem Gedanken. Warum fühlte sich alles so schwer an? Die Möglichkeit, dass diese Kette, dieses unscheinbare Schmuckstück, mehr verbarg, als sie je geahnt hatte, setzte ihr zu. Sie hatte nichts anderes von Reeve. Keine Briefe, keine Geschenke, nur diese Kette, die sie damals aus ihrem Leben verbannt hatte. Doch jetzt... jetzt kehrte sie in ihre Gedanken zurück wie ein Bumerang, den sie nie wirklich losgeworden war.
Elea sprang auf, ihre Schritte waren nervös und rastlos. Harper war bei ihrer Tochter, und die Stille ihrer Abwesenheit fühlte sich bedrückend an. „Ein paar Tage nur," hatte sie gesagt, als sie ging, „bis sie wieder gesund ist." Elea hätte es als Gelegenheit sehen sollen, nachzudenken, einen klaren Kopf zu bekommen. Aber der Gedanke an die Kette ließ sie keine Ruhe finden. Was, wenn sie der letzte Faden zu Reeve war? Der letzte Knoten, der sie noch immer an ihn band?
In der Dunkelheit, als die Straßen von Nightshade City wie ein tiefes, undurchdringliches Meer wirkten, fasste sie einen Entschluss. Sie konnte nicht länger warten. Wenn diese Kette wirklich so wichtig war, dann musste sie sie zurückholen. Jetzt. In der Nacht. Sie musste einfach.
Mit klopfendem Herzen zog sie sich die Kapuze über den Kopf und schlich durch die stillen Gassen der Stadt. Jeder ihrer Schritte war bedacht, als würde der Asphalt unter ihren Füßen sie verraten. Sie durfte niemandem begegnen, sonst wäre dies ihr Ende. Keine neugierigen Blicke, keine Männer von Reeve. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, ihre Augen sprangen von Schatten zu Schatten. Jedes Geräusch, jede Ecke, jede Bewegung ließ ihre Sinne aufflackern. Der Weg war eine einzige Tortur – die Straßen wirkten plötzlich bedrohlich und fremd.
Als Elea den Friedhof erreichte, war es, als würde die Zeit um sie herum stillstehen. Die Dunkelheit der Nacht und die Kälte, die durch die Luft zog, waren nichts im Vergleich zu dem schweren Gefühl, das sich auf ihre Brust legte. Das Grab ihrer Eltern. Jede Faser ihres Körpers zog sich zusammen, als sie den vertrauten Ort vor sich sah. Der Boden, den sie so viele Male besucht hatte – und doch nie wirklich verstehen konnte. Ein Ort, der für immer mit der Leere und dem Verlust verbunden war, die sie in so jungen Jahren ertragen musste.
Mit zittrigen Händen kniete sie nieder, die Finger gruben sich in die kalte, feuchte Erde, als ob sie dadurch den Schmerz in sich beruhigen könnte. Doch je tiefer sie grub, desto schwerer wurde die Last in ihrem Herzen. Warum mussten sie gehen? Warum hatte das Leben ihr die beiden Menschen genommen, die sie am meisten brauchte? Sie war damals noch ein Kind gewesen, zu jung, um die Endgültigkeit des Todes zu begreifen – und doch zu alt, um die Tragweite zu ignorieren. Wäre ihr Leben anders verlaufen, wenn sie noch am Leben wären?
In ihren Gedanken formte sich ein Bild, das sie nie ganz loslassen konnte: Wie wäre ihr Leben gewesen, wenn ihre Eltern noch da wären? Hätten sie ihr beigestanden, als Reeve in ihr Leben trat? Hätten sie sie gewarnt, sie beschützt vor der dunklen Welt, in die sie gefallen war? Oder wäre Reeve ihr nie begegnet, weil sie dann nicht nach Halt gesucht hätte, den er ihr so verführerisch bot?
Tränen brannten in ihren Augen, doch sie kämpfte dagegen an. Sie durften nicht fallen. Nicht hier. Nicht jetzt. Sie hatte schon so viele Tränen um sie vergossen – warum tat es immer noch so weh? Jahre waren vergangen, aber der Schmerz hatte nie ganz nachgelassen. Es war, als hätte der Verlust ein Loch in ihre Seele gerissen, dass nichts und niemand je wieder füllen konnte. Die Jahre hatten die Leere - gerade nach dem Tod von ihrem Opa - nur tiefer werden lassen, und jeder Schritt, den sie gegangen war, hatte sie weiter von dem Mädchen entfernt, das sie einst gewesen war.
Mit bebenden Händen grub sie weiter, bis sie schließlich auf etwas Hartes stieß. Die Schatulle. Hier hatte sie sie vergraben, zusammen mit der Kette und den Überresten ihrer Vergangenheit. All die Dinge, die sie nicht länger bei sich tragen konnte, weil sie unerträglich wurden. Als sie den Deckel der Schatulle öffnete, kamen die Erinnerungen zurück – nicht nur an Reeve, sondern an die Liebe, die sie einst gekannt hatte. Eine Liebe, die jetzt nur noch in Bruchstücken vorhanden war, wie das Leben, das ihr vor so langer Zeit entrissen worden war.
Als Elea die Schatulle in den Händen hielt, war es nicht nur der kalte Nachtwind, der sie zittern ließ. Es war die Last der Erinnerungen, die sie fast zu Boden drückte. Der Friedhof, dieser Ort der Stille, war jetzt alles andere als beruhigend. Hier lagen ihre Eltern, die Menschen, die sie einst beschützt hatten – doch sie waren schon so lange fort. Zu lange.
Die Kälte, die sie umgab, war nichts im Vergleich zu der Kälte, die sich in ihrem Inneren ausbreitete. Sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten, als sie sich an den Verlust erinnerte, der sie so früh in ihrem Leben getroffen hatte. Sie war zu jung gewesen, um zu verstehen, warum das Leben so grausam sein konnte. Wie anders wäre ihr Leben verlaufen, wenn sie noch da gewesen wären?
Hätten sie Reeve durchschaut? Hätten sie den Mann gesehen, der hinter seiner charmanten Fassade lauerte? Hätten sie sie vor ihm gewarnt, bevor es zu spät war? Diese Fragen bohrten sich in Eleas Kopf und ließen sie nicht los. Sie fühlte sich verraten – von Reeve, vom Schicksal, von der Welt.
Ihre Finger zitterten, als sie den Deckel öffnete und auf den Inhalt blickte – die Kette, die Reeve ihr einst gegeben hatte.
Die Erinnerungen an ihn überrollten sie wie eine Flut. Sie dachte an den Moment, als sie ihm begegnet war – wie spontan er in ihr Leben getreten war, ohne dass sie ahnen konnte, dass er sie eines Tages verraten würde. Sie hatte ihm vertraut, ihn geliebt, und er hatte sie in die Dunkelheit gestoßen. Der Grund, warum sie hinter Gittern gesessen hatte, war er.
Warum hatte sie vor all den Jahren die Kette hier an diesem Ort vergraben? Warum hatte sie sie überhaupt behalten? Es war nicht das Gewicht des Metalls, das sie so schwer machte, sondern die Last der Vergangenheit, die daran hing. Die Last von Reeve.
Elea wollte Harper anrufen, ihr alles erzählen, doch Zweifel keimten in ihr auf. Konnte sie Harper wirklich trauen? Was, wenn Harper doch auf Reeve's Seite stand? Was, wenn Harper nicht die war, für die sie sie hielt? Elea entschied sich, es für sich zu behalten – zumindest vorerst.
Doch was sollte sie mit der Kette tun? Die Wut über all die Jahre, die verloren gegangen waren, brannte in ihr. Reeve hatte ihr Leben zerstört, und jetzt hielt sie vielleicht die letzte Verbindung zu ihm in ihren Händen. In einem plötzlichen Anfall von Verzweiflung und Zorn schleuderte sie die Kette quer über den Friedhof. „Ich will das alles nicht mehr!" rief sie laut in die Dunkelheit.
Der Anhänger prallte gegen einen Stein, fiel zu Boden und zersprang. Elea starrte auf die zerbrochenen Stücke, als etwas im Licht der Laterne in ihrem Augenwinkel aufblitzte. Vorsichtig trat sie näher und sah etwas zwischen den Trümmern. Ein kleiner, metallischer Chip lag dort, verborgen im Inneren der Kette.
Ein Chip. Elea hob ihn auf, ihr Herz raste. Was war das? Die Kette hatte all die Jahre etwas in sich getragen – etwas, das sie niemals bemerkt hatte. Was hatte Reeve hier versteckt? Warum war das so wichtig, dass er sie immer noch verfolgte? Verfolgte er sie wegen diesem Chip?
Elea hielt den Chip in der Hand, ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Was war darauf gespeichert? Wer könnte ihr jetzt helfen, herauszufinden, was das war?
Die Wahrheit war schwerer, als sie es jemals erwartet hätte.
18|10|2024
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Dark Chains
ChickLitNach neun Jahren hinter Gittern ist Elea endlich frei - oder so dachte sie. Kaum in die Freiheit entlassen, taucht Reeve auf, der Mann, der einst ihr Leben und ihre Liebe war. Jetzt jagt er sie erbarmungslos, um etwas zurück zu bekommen, was ihm ein...