3 Flüstern der Nacht - Teil 2

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„Elea, lass mich dir etwas zeigen," sagte Reeve sanft, gerade als ich meinen Mantel anzog, um Feierabend zu machen. Ich hielt inne, überrascht, und drehte mich um, um ihn anzusehen. Sein Lächeln ließ mein Herz schneller schlagen. „Was denn?" fragte ich, wobei ich versuchte, meine Freude darüber, dass er noch Zeit mit mir verbringen wollte, zu verbergen. Doch ich wusste, dass er es sah. In seiner Nähe vergaß ich oft die Zeit, und jedes Mal, wenn wir nicht zusammen waren, fehlten mir die Momente, die wir teilten.

„Es ist eine Überraschung. Komm mit." Mit einem schelmischen Grinsen schnappte er sich meine Hand und zog mich mit sich. Allein diese leichte Berührung reichte aus, um etwas in mir auszulösen, dass ich nicht kontrollieren konnte. Die Nervosität und die Freude, die ich verspürte, konnte ich kaum verbergen. Und als ich in seine Augen sah, erkannte ich, dass es ihm genauso ging. Es war verrückt, wie vertraut wir miteinander umgingen – aber tief in mir wusste ich, dass ich ihm alles anvertrauen würde.

„Schneller!" rief er lachend, während wir im Regen durch die schmalen Straßen rannten, umgeben von der Kälte und Dunkelheit der Nacht. Die Lichter der Stadt schimmerten wie ferne Sterne durch den Nebel, während die kleinen Tropfen uns durchnässten. Reeve lief voran, meine Hand fest in seiner, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Trotz der Kälte breitete sich in mir eine wohlige Wärme aus, als wir uns unserem Ziel näherten. War er vielleicht der Richtige für mich?

Durchnässt blieben wir schließlich vor einem unscheinbaren kleinen Gebäude stehen. Das flackernde Neonlicht über der Tür spiegelte sich auf den nassen Gehwegen. „Willkommen im May's," sagte er und öffnete die Tür. Sofort umfing uns der süße Duft von Kaffee und Vanille. Als wir eintraten, fühlte ich mich sofort von der Behaglichkeit des Ortes willkommen geheißen, und ein leichtes Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Das Diner war klein, gemütlich und wirkte wie eine ruhige Oase inmitten der hektischen Stadt. Es fühlte sich an, als hätte die Welt draußen plötzlich aufgehört zu existieren.

Wir zogen unsere nassen Mäntel aus und setzten uns an einen Tisch in der hintersten Ecke, nah am Fenster, dessen Glas von innen leicht beschlagen war. Draußen prasselte der Regen leise gegen die Scheiben, doch hier drinnen war es warm und sicher. Ich beobachtete ihn verträumt, wie er sich durch sein nasses Haar fuhr. „Hier gibt es den besten Kaffee der Stadt," meinte er, als er zwei Tassen bestellte. Als die Kellnerin den Kaffee brachte, lehnte ich mich entspannt zurück und ließ den herrlichen Duft der Kaffeebohnen auf mich wirken.

„Was machst du normalerweise, wenn du hier bist?" fragte ich neugierig, während ich mich umsah. Dieser Ort war mir völlig neu, doch für Reeve schien er wie ein zweites Zuhause zu sein. Ein kleiner Zufluchtsort in der großen, lauten Stadt.

Er lehnte sich zurück, seine Hände lagen locker auf dem Tisch, und seine Augen fixierten mich mit einer Intensität, die mich dazu brachte, meine Kaffeetasse fester zu halten. „Ich beobachte," antwortete er leise, seine Stimme war tief und rau. „Die Menschen. Die Stadt. Es gibt Dinge, die man nur sieht, wenn man wirklich hinschaut. Manchmal denke ich, dass die Welt anders ist, als sie scheint. Und vielleicht," fügte er mit einem kaum merklichen Lächeln hinzu, „habe ich nur auf jemanden wie dich gewartet, um diesen Ort zu teilen."

Seine Worte brachten mein Inneres durcheinander. Er ließ sie einfach so zwischen uns stehen, und ich spürte, wie mein Herz schneller schlug. Meine Augen weiteten sich leicht, aber er bemerkte es. Etwas an der Art, wie er sprach, brachte mich aus dem Gleichgewicht. Jeder Satz von ihm schien mit Bedeutung gefüllt zu sein, als gäbe es Geheimnisse, die er noch nicht vollständig preisgeben wollte. Und sein durchdringender Blick ließ mich das Gefühl nicht loswerden, dass er mehr wusste – über mich, über sich selbst, über die Welt um uns.

„Jemand wie mich?" flüsterte ich, während ich versuchte, meine Nervosität zu verbergen, doch ich scheiterte kläglich.

Reeve sah mich an, und für einen Moment dachte ich, er würde nichts mehr sagen. Doch dann lehnte er sich leicht nach vorne, seine Augen wanderten über mein Gesicht, als würde er mich studieren, bevor er sanft antwortete: „Jemand, der nicht nur sieht, sondern verstehen will. Jemand, der spürt, dass da draußen mehr ist, als das, was wir jeden Tag vor uns haben. Jemand, der bereit ist, mehr zu wollen." Seine Worte waren leise, aber sie trafen tief. Eine Kälte und Wärme durchströmte mich gleichzeitig, und ich spürte, wie sich meine Haare aufstellten.

„Mehr wollen..." murmelte ich verwirrt, als müsste ich erst begreifen, was er meinte. „Was willst du denn, Reeve?" Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, und ich hatte Angst vor seiner Antwort.

Reeve lehnte sich noch näher zu mir, sein Blick durchbohrte meine hellbraunen Augen, als könnte er direkt in mein Innerstes blicken. „Freiheit," sagte er schlicht. „Ich will frei sein, Elea. Frei von all den Dingen, die uns festhalten. Von den Erwartungen, die wir uns selbst auferlegen, ohne es zu merken. Von den Dingen, die wir tun müssen, obwohl wir sie nicht wollen."

Sein Ton wurde sanfter, aber auch bestimmter. Ich wusste, dass er eine Wahrheit aussprach, die tief in ihm verwurzelt war, doch es gab auch etwas Unergründliches, das ich nicht völlig verstehen konnte. Er wirkte betrübt, und ich fragte mich, ob er jemals wirklich frei sein könnte.

„Frei wovon?" fragte ich leise, unsicher, was er wirklich meinte.

Sein Lächeln war fast unmerklich. „Frei von allem," wiederholte er, und diesmal klang es endgültiger. „Von der Verantwortung, den Aufgaben, die uns gefangen halten. Von der Stadt, die uns kontrolliert. Vielleicht sogar frei von uns selbst."

Seine Worte trafen mich tief, nicht durch ihre Härte, sondern durch die Tiefe, die darin lag. Ich spürte, dass er von Dingen sprach, die ich nicht vollständig verstand, aber es machte mich neugierig.

„Und du?" Seine Frage traf mich unerwartet, und seine Augen musterten mich aufmerksam. „Was bist du bereit aufzugeben, um das zu bekommen, was du wirklich willst?"

Ich schluckte schwer, meine Kehle fühlte sich plötzlich eng an. „Ich... ich weiß es nicht," antwortete ich ehrlich, meine Stimme unsicher. Aber ich hielt seinem Blick stand. „Aber ich glaube, ich will es herausfinden."

Reeve lehnte sich zurück, sein Ausdruck blieb unlesbar. „Das ist der erste Schritt," sagte er ruhig. „Aber Freiheit fordert mehr, als die meisten bereit sind zu geben. Manchmal muss man sie sich nehmen."

Seine Worte schienen sich tief in meine Seele einzugraben, und ich konnte die Spannung zwischen uns spüren. Es war, als würde er mich auf eine Reise einladen, deren Ausgang ich nicht kannte. Aber etwas in mir schrie danach, es herauszufinden.

„Bist du bereit?" fragte er schließlich, seine Augen ließen mich nicht los. Es war, als wartete er auf eine Antwort, die über Worte hinausging.

Mein Herz raste, aber ich wusste, dass dieser Moment entscheidend war. Ich war bereit, mich auf das Ungewisse einzulassen. „Ja," sagte ich schließlich fest. „Ich bin bereit."

Reeve lächelte sanft, ein Lächeln, das mich gleichzeitig beruhigte und auf seltsame Weise nervös machte. „Gut," flüsterte er. „Dann lass uns sehen, wohin uns das führt."
In diesem Moment schien die Nacht im Diner noch stiller zu werden, als wir uns ansahen – als wäre die Welt draußen bedeutungslos geworden, und nur noch wir beide zählten.

Elea blinzelte, und das vertraute Gefühl von Wärme und Sicherheit, dass sie in der Erinnerung mit Reeve gespürt hatte, begann zu verblassen. Die Bilder von der Nacht im Diner – das Lachen, der Regen, seine sanfte Berührung – lösten sich auf, als die Realität sie langsam wieder einholte. Der Geruch von Kaffee und Vanille vermischte sich nun mit der dumpfen Schwere des Raumes, in dem sie saß. Die sanften Klänge des Jazz holten sie gänzlich wieder in die Gegenwart zurück.

Es war nur eine Erinnerung gewesen. Die Nacht mit Reeve, die damals so real gewirkt hatte, war nur ein flüchtiger Gedanke. Doch sie hinterließ ein leeres Gefühl, als ob der Mensch, den sie einst gekannt hatte, nie wirklich existiert hatte. Sie atmete tief durch und ließ die Erinnerung an Reeve los. In der Hoffnung, dass es für immer sein würde. Die Vergangenheit war vorüber, und die Gegenwart wartete, unbarmherzig und unausweichlich.

08|10|2024

Dark ChainsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt