2 Flüstern der Nacht - Teil 1

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Elea Dean rannte, schneller als sie es je für möglich gehalten hätte. Ohne ihre Umgebung zu beachten - ziellos, rastlos, ohne Orientierung. Ihre Beine trugen sie durch die Straßen, als würden sie versuchen, sie in eine andere Realität zu bringen – weg von Reeve, und weiter weg von ihrer Vergangenheit, die an ihr klebte wie eine zweite Haut. Weiter als das Leben, das sie einst hatte.

„Was will er von mir? Warum jetzt?" Diese Fragen schossen ihr durch den Kopf, während der Gedanke, diese Seite ihres Lebens für immer hinter sich gelassen zu haben, in sich zusammenbrach. Hatte sie nicht schon zu viel verloren? Warum musste er jetzt ihren kurzen Frieden stören? Mit jedem Schritt entfernte sie sich vom Gefängnis, doch die Erinnerungen an sein Gesicht, seine Stimme, seinen kalten Griff um ihren Arm wurden umso quälender. Diese Erinnerungen verfolgten sie wie Schatten und ließen sie innerlich beben. Eine Lawine aus Chaos und Schmerz der Vergangenheit brach über sie herein. Es war, als wäre sie wieder in seinen Fängen, trotz der Freiheit, die sie gerade durch wiedererlangt hatte. Ihr entglitt die Kontrolle. Er hatte sie wieder in seinen Fängen.

Elea kämpfte um ihren Atem, versuchte, sich zu beruhigen, doch der Gedanke an ihn brachte sie immer wieder aus dem Gleichgewicht. Sie schloss die Augen und versuchte, einen klaren Plan zu schmieden, aber ihre Hoffnung, dass sich das Leben zum Besseren wenden würde, war im Chaos verloren. Sie schüttelte den Kopf. „Hoffnung brauche ich nicht," murmelte sie und lachte verächtlich auf. Es war die Hoffnung, die sie in diese Lage gebracht hatte. Jetzt musste sie realistisch und stark sein – stärker als früher. Stärker als die Wunden der Vergangenheit, stärker als er.

Mit einem tiefen Atemzug verlangsamte sie ihren Lauf. Es war an der Zeit, zu sich selbst zu finden – zu der Elea Dean, die im Gefängnis geformt wurde. Ihre Augen nahmen jetzt zum ersten Mal ihre Umgebung wahr. Vor ihr lag ein Park, die Bäume bewegten sich sanft im Herbstwind. Der Tag umhüllte sie mit einer sanften Wärme, die wie eine beruhigende Umarmung wirkte. Für einen Augenblick schloss sie die Augen, und die Zeit schien stillzustehen. Der Wind berührte sie leicht wie eine Feder, während die Sonne ihre Haut kitzelte.

Doch die Realität riss sie abrupt zurück, als etwas ihren Fuß sanft berührte. Ruckartig öffnete sie die Augen und sah einen Ball vor sich. Ein kleiner Junge rannte auf sie zu. Bevor er sie erreichte, schoss sie ihm den Ball zu und machte auf dem Absatz kehrt. Sein „Danke Miss!" hallte noch in ihren Ohren, als sie weiterlief. Auch sie war einmal so unschuldig und gutgläubig gewesen – bis er ihr all das genommen hatte.

Elea wusste, dass sie einen Plan brauchte. Einfach nur zu rennen, würde nicht reichen. Er würde sie immer wieder finden, bis er das bekam, was er wollte. Eine kalte Welle der Angst durchströmte ihren Körper, ließ sie frösteln, aber es war mehr als nur Angst – es war Wut. Die Wut, die sie so lange unterdrückt hatte, brannte jetzt wie ein loderndes Feuer. Er hatte ihr Leben zerstört, sie gebrochen. Aber das war noch nicht das Ende. Nicht mehr.

Langsam richtete sich Elea auf. „Nicht mehr," flüsterte sie, kaum hörbar, aber mit einer Entschlossenheit, die wie ein stilles Versprechen in der Luft lag. Sie war nicht mehr das naive Mädchen von damals. Es war Zeit, die Kontrolle zurückzugewinnen. Die Sonne brannte auf ihr Gesicht, während sie weiterlief, entschlossen, die Ketten der Vergangenheit, die sich wie ein Strick um ihren Hals legten, aufzubrechen. „Ich bin nicht mehr das Opfer," murmelte sie fest, während sie sich durch die Straßen schlängelte, auf der Suche nach einem sicheren Ort – einem Moment der Ruhe, um sich zu sammeln.

Die Straßen waren still, leer bis auf das Knirschen des Asphalts unter ihren Stiefeln. Jedes ihrer Schritte hallte wie ein leises Echo, das sie an die Stille vor dem Sturm erinnerte. Nach stundenlangem Marsch erblickte sie die schimmernden Lichter von Nightshade City – eine Stadt, getränkt von der Gier der Reichen und Mächtigen und dem Blut der Unschuldigen. Voller Intrige und List. Eine düstere Metropole, deren Herzschlag im Rhythmus der kriminellen Organisationen pochte.

Die glänzenden Fassaden der Hochhäuser spiegelten den Reichtum und die Macht der elitären Oberschicht wider, doch ihr Glanz war nur eine Farce. Die Gebäude thronten über der Stadt, erhellten den Himmel, aber ließen die Straßen in ihren Schatten versinken. Ein Labyrinth aus Dunkelheit, durch das nur das schwache Flackern von Neonlichtern drang und für einen kurzen Moment die verborgenen Geheimnisse dieser Stadt enthüllte. Eine Stadt, geschaffen von den Mächtigen für die Mächtigen.

Der Teufel sät hier seine Gefolgschaft. Hier regierte das Gesetz des Stärkeren. Ein leises Flüstern, ein verstohlener Blick, und der Tod lauerte, noch bevor die Schatten sich verzogen. Gesetze waren nichts weiter als leere Versprechen, hinter denen die Kriminalität wütete. Elea hatte dies auf die harte Weise gelernt.

Für die Armen und Unterdrückten war Nightshade City ein Ort, der sie in ständiger Abhängigkeit und Unsicherheit hielt. Die Menschen in den unteren Schichten der Stadt kämpften ums Überleben in einem System, das ihnen kaum eine Chance bot. Sie waren unsichtbar, verloren im Lärm der Stadt. Während die Straßen von Gewalt beherrscht wurden, lebten die Mächtigen ungestört in ihren gläsernen Türmen, abgeschottet vom Chaos unten.

Doch Elea glaubte, dass unter der Oberfläche der Stadt eine Wut brodelte – gegen das System, gegen die Mächtigen, gegen Männer wie Reeve. Aber in dieser Stadt konnte niemand unschuldig bleiben, wenn er etwas ändern wollte. Je näher sie der Stadt kam, desto stärker wurde die Anspannung in ihrem Körper, und ihr Herzschlag pochte laut in ihren Ohren, als ob das Unheil sie bereits erwartete – wie einen alten Freund.

„Was will er von mir?" fragte sie sich erneut, während die Stadt vor ihr auftauchte. Was hatte sie, das er unbedingt brauchte? Die Frage hallte noch lange in der Luft nach, doch die Antworten blieben aus. Ihre Gedanken waren so dunkel wie die Nacht, die über der Stadt lag. Sie brauchte dringend einen Unterschlupf – irgendwo, wo sie sich verstecken und nachdenken konnte. Doch mit dem wenigen Geld, das sie hatte, war das eine Herausforderung. Vielleicht konnte sie die Nacht in einem Diner verbringen, wach bleiben und Kaffee trinken, bis der Morgen graute.

„May's!" Schnell und vorsichtig lief Elea durch die schmalen, von Neonlichtern beleuchteten Straßen auf das einzige Diner zu, das sie kannte und das die ganze Nacht geöffnet hatte. Der Ort, den er ihr einst gezeigt hatte. Sie hatten dort Nächte damit verbracht, zu reden. Aber würde er jetzt dort sein? Nein, er würde bestimmt nicht dort hingehen. Ein naiver Gedanke, dennoch hielt sie daran fest. Mit einem leisen Echo ihrer Schritte erreichte sie den unscheinbaren Laden. Die Fenster waren von innen beschlagen, als ob das Diner selbst von der Außenwelt abgeschnitten wäre. Das gedämpfte Licht im Inneren wirkte einladend, warm, wie ein sicherer Hafen in einer ansonsten rauen und feindseligen Umgebung. Das Neon-Schild über der Eingangstür flackerte leicht und tauchte den Eingangsbereich in ein sanftes, pinkes Licht, das den Namen „May's" kaum noch lesbar machte. Die Tür, an manchen Stellen abgeblättert und verkratzt, quietschte leise, als Elea sie aufdrückte.

Als sie den Laden betrat, umfing sie die behagliche Wärme sofort. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee und Keksen vermischte sich mit einem Hauch von Zucker und Vanille. Der Raum war klein, vielleicht sieben oder acht Tische, jeder mit grünen Lederbänken ausgestattet, deren Oberfläche stellenweise abgewetzt war. Auf den Tischen lagen einfache weiße Papierservietten und altmodische Zuckerspender aus Glas. An den Wänden hingen verblasste Fotografien der Stadt, vermutlich aus besseren Tagen, eingerahmt in schlichte Holzgitter.

Die Theke im hinteren Teil des Diners war ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit – aus poliertem Metall und mit schlichten Barhockern, deren Sitze schon bessere Zeiten gesehen hatten. Hinter der Theke stand eine Kellnerin, in die Jahre gekommen, mit einem leicht zerknitterten Gesicht, das von langen Nächten und einem Leben in diesem Viertel erzählte. Sie sah auf, als Elea hereinkam, ihre Augen müde, aber nicht unfreundlich. Ein Radio spielte leise im Hintergrund, irgendein alter Jazzsong, der die Atmosphäre noch gemütlicher machte.

Elea setzte sich an einen Tisch in der hintersten Ecke, weit weg von der Tür. Es war ruhig hier, fast schon zu ruhig, aber in dieser Ruhe lag etwas Tröstliches. Für den Moment war dies ein Ort, an dem sie sich verstecken konnte. Der Lärm der Stadt blieb draußen, und in diesem kleinen Diner schien die Zeit langsamer zu vergehen. Sie schloss für einen Moment die Augen, die Wärme der Umgebung durchströmte sie.

Es war, als wäre sie wieder zurück in jener Nacht.

08|10|2024

Dark ChainsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt