Kapitel 81

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Ella schaute immer noch auf das Telefon in ihrer Hand als sie zurück zu ihrer Familie lief. Ihr Herz pochte ihr bis in den Hals. „Was ist denn, Maus? Du siehst ja ganz blass aus." Jasi war von ihrem Stuhl aufgesprungen und zu Ella geeilt. „Was hat der Kerl gewollt? Ist er irgendwie ausfällig oder aufdringlich geworden?" Auch ihr Vater hatte seinen Stuhl zurückgeschoben und war am Aufstehen. „Quatsch!", kicherte Lu. „Der hat sie auf ein Date eingeladen und jetzt weiß Ella nicht, was sie anziehen soll." Also Date traf es nicht wirklich und anziehen auch nicht. „Ausziehen! Ich werde ausziehen", platzte es aus ihr heraus. „Das heißt aber ich werde mich ausziehen. Reflexivpronomen sollte man nie vergessen, sonst verändert sich der Sinn des Satzes." Lu grinste sie verschwörerisch an und zwinkerte. Ella winkte ab. „Nein, der Satz ist so schon richtig. Ich werde ausziehen." So langsam kam erst das ganze Ausmaß des Anrufs in ihrem Oberhaus an. Sie würde wirklich endlich zu Hause ausziehen. Sofort legte ihr Herz noch um ein paar Schläge zu. „Du willst ausziehen?" Wieder stimmten ihre Eltern einen zweistimmigen Kanon an. „Warum denn das?" Jasi sah sie irritiert an. „Du bist doch hier gut und sicher aufgehoben." „Vielleicht genau deshalb", kicherte Lu wieder. „Gut und sicher ist langweilig. Und du ziehst mit dem geilen Liam zusammen? Darf ich dich dann besuchen und bei dir übernachten?" „Luise!" Okay, diesmal hatte es wohl Jasi die Sprache verschlagen. Im Gegensatz zu ihrem Vater. „Das ist nicht dein ernst, dass du mit diesem Kerl zusammenziehen willst." Seine Augenbrauen berührten fast seinen Haaransatz und seine Augen hätten jeden Asiaten neidisch gemacht. Was sollte denn diese Reaktion? War sie nicht alt genug, um so etwas selbst zu entscheiden? „Ich verbiete dir das!" Er schlug mit seiner flachen Hand auf den Tisch. „Du hast doch erst in Mallorca bewiesen, dass du noch nicht erwachsen genug bist, um auf eigenen Beinen zu stehen." Wie bitte? Sie hatte sich doch wohl verhört. „Marvin!" Jasi schaute ihren Mann warnend an. „Was?" Ihr Vater schaute wütend zu seiner Frau. „Darf ich jetzt nicht einmal mehr die Wahrheit sagen? Du bist doch genauso die ganze Zeit in Sorge, dass Ella wieder etwas passiert. Ich werde bestimmt so schnell den Anruf aus dem Krankenhaus nicht vergessen. Und ich habe keine Lust wieder so einen oder noch einen viel schlimmeren zu bekommen. Ella ist meine Tochter, die ich liebe und die ich beschützen muss. Das ist meine Aufgabe als ihr Vater. Ich habe sie einmal vernachlässigt. Das passiert mir garantiert nicht noch einmal." „Wow!" Lu sagte das, was auch Ella gerade dachte. Wenn sie ehrlich war, hatte sie ihren Vater noch nie so emotional erlebt. Er war eigentlich der, der immer alles ruhig zur Kenntnis nahm und dann ein ruhiges Gespräch mit einem führte. Nie platzte ihm einfach so der Kragen. „Ja Tiger, das bin ich. Natürlich mache ich mir Sorgen. Um jedes meiner Kinder. Nicht nur um Ella." Jasis Blick wanderte von Ella zu Lu. „Aber du kannst einer erwachsenen Frau nichts verbieten. Und Ella ist erwachsen. Klar habe ich auch jedes Mal Angst, wenn sie alleine unterwegs ist und wir nicht wissen, was sie gerade macht. Aber das bedeutet trotzdem nicht, dass wir sie hier einsperren können. Wir müssen lernen mit unserer Angst umzugehen." „Einsperren wäre aber sicherer", brummte ihr Vater unzufrieden. „Vielleicht, aber du willst doch auch glückliche Kinder. Und da gehört es auch dazu, dass sie sich frei entwickeln können und ihre Erfahrungen machen." Sie verzog ihr Gesicht und schaute zu Ella. „Auch, wenn es manchmal nicht nur schöne sind. Leider gehört das dazu. Unsere Angst darf sie aber nicht einschränken. Wir müssen einfach in unsere Kinder vertrauen. Schließlich sind sie clever genug." Was hatte Jasi da gesagt? Sie hatten Angst um sie. Okay, das war verständlich. Wahrscheinlich hatten Eltern immer Angst um ihre Kinder. „Dann hältst du mich nicht für zu dumm, auf mich aufzupassen?" „Was?" Ihre Mutter schaute sie mit aufgerissenen Augen an. „Natürlich nicht. Wenn jemand einem so etwas Hinterhältiges antut, das hat doch nichts mit Dummheit, sondern nur mit Gemeinheit und Rücksichtslosigkeit der anderen Person zu tun. Das war kriminell. Du bist doch auch nicht dumm, wenn jemand dein Auto klaut oder in dein Haus einbricht." Okay, so hatte Ella das noch nie gesehen. „Trotzdem hat es natürlich auch Ängste und Schuldgefühle bei uns hinterlassen. Wir waren schließlich nicht da, um dich zu beschützen." „Aber ihr könnt doch auch nicht ständig da sein. Euch trifft überhaupt keine Schuld." Nie im Traum hätte Ella gedacht, dass ihre Eltern deshalb Schuldgefühle hatten. „Das mag sein. Trotzdem haben wir uns Vorwürfe gemacht und deshalb vielleicht in letzter Zeit etwas überreagiert." Jasi sah total zerknirscht aus. „Und jetzt treiben wir dich damit auch noch aus dem Haus." Ella schüttelte den Kopf, auch wenn es gelogen war. „Ich wollte sowieso ausziehen und auf eigenen Füßen stehen. Das hat damit überhaupt nichts zu tun." Ja, es reichte schon, wenn sich ihre Eltern völlig unnötig Vorwürfe machten. Da mussten sie sie nicht noch mehr belasten. „Obwohl so ganz auf eigenen Füßen stimmt gar nicht. Ich will mit Ava zusammenziehen." „Mit Ava. Das ist gut. Dann bist du wenigstens nicht ganz alleine." Okay, ihr Vater schien ihr wohl nicht so zu vertrauen wie Jasi. Aber daran ließ sich bestimmt noch etwas ändern. „Wollt ihr nachher mitkommen, wenn wir die Schlüssel für die Wohnung bekommen und den Vertrag unterschreiben?" Vielleicht war es ja gar nicht so schlecht, wenn da noch jemand mit mehr Erfahrung drauf schaute. Ja, das konnte nicht schaden. Und scheinbar war es genau die richtige Frage gewesen, so wie ihre Mutter begeistert nickte. Selbst ihr Vater schaute nicht mehr so verbissen. Ja, vielleicht war das genau der richtige Weg, die beiden miteinzubeziehen und trotzdem den eigenen Weg zu gehen.

Schuss und Treffer - auf leisen Sohlen      Teil 17Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt