Als sich Mum in ihre erste Schlacht stürzte, verbrachten wir die Abende damit, in Tolkiens Welt zu verweilen, durch das Auenland zu streifen und Frodo bei seinen Abenteuern zu begleiten. Bei den Kampfszenen nickte Mum regelmäßig weg, während ich uns Tee kochte. Wenn sie wieder aufwachte, war er bereits erkaltet, und ich setzte neuen auf. Doch sobald der Regisseur nach Auenland zurückkehrte, wachte sie jedes Mal wie von Zauberhand auf und lächelte. Lächelte auf eine Art und Weise, die mich an früher, an bessere Tage erinnerte.
Damals hatten wir uns fest vorgenommen, die romantischen, von Gras überzogenen Erdhäuser nahe der kleinen neuseeländischen Stadt Matamata zu besuchen. Nur wir beide auf der Spur von Bilbo und Frodo.
Beim ersten Chemo- und Strahlentherapiedurchlauf meiner Mum war ich ein Teenager und glaubte daran, dass alles gut werden würde. Aber als sie zum zweiten Mal erkrankte, war ich eine junge Erwachsene und wusste, dass eine gemeinsame Reise ins Reich der Hobbits nur noch in unserer Fantasie passieren würde. Mum hatte eine Schlacht gewonnen, doch den Krieg hatte sie nach einem langen, harten Kampf schlussendlich verloren.
Nun stand ich da in einem schwarzen Parka, in dunklen Stiefeln, in denen die Jeans endeten, mit einer Kapuze tief ins Gesicht gezogen und einer Sonnenbrille an einem grauen, verregneten Herbsttag. Ich konnte kaum etwas erkennen, aber auf diese Weise stellte ich sicher, dass niemand meine Augen sah, die vom Weinen geschwollen und gerötet waren.
„Es geht mir gut, Mum", flüsterte ich, obwohl niemand weit und breit um mich herum stand. Kalte Regentropfen prasselten auf mein Kinn. „Ich mag meinen Job, habe eine tolle Chefin und coole Kollegen."
Und es stimmte. Mein Leben lief.
Irgendwie.
„Aber du fe ..." Meine Stimme brach ab. Wieder rollte eine Woge der Trauer über mich hinweg und ließ mir Tränen die Wangen hinunterlaufen.
Du bist 28. Langsam musst du darüber hinwegkommen. Eltern sterben nun mal. Schlimmer ist es, sein Kind zu Grabe zu tragen. Diese und ähnliche Sätze geisterten in meinem Kopf herum, während ich dastand und spürte, wie die Kälte durch meine Kleidung kroch.
Als dürfte ein erwachsenes Kind nicht trauern, als hätte Trauer ein Ablaufdatum. Als müsste ich nach einem Jahr mit dem Verlust abgeschlossen haben.
Ich legte den Strauß sanft geschwungener weißer Blüten auf das Grab, Mums Lieblingsblumen Callas, die Blumen der Unsterblichkeit. Dann machte ich mich auf den Heimweg.
Mit einer Tasse grünem Tee nahm ich vor dem Fernseher Platz, in meiner Hand ein Ring. Das letzte Geschenk meiner Mum.
„Mum, das kann ich nicht annehmen", murmelte ich, als sie ihn mir hinhielt. Ihre Kraft hatte gerade noch gereicht, um ihn auszupacken, jedoch nicht mehr, um die Lieferpackung zu entsorgen. Daher wusste ich, dass er aus einem der teuersten Fanshops der USA stammte.
„Wir können nicht nach Auenland, also kommt ein Stück davon zu dir." Mum zog die Mundwinkel hoch, und für den Hauch von ein, zwei Sekunden lang blitzte Lebensfreude in ihren dunklen Augen auf.
Ich machte einen Schluck aus meinem Becher, stellte ihn ab und griff nach der Fernbedienung. Es tat weh, ohne Mum nach Auenland zu reisen. Aber als die vertraute, herzerwärmende Melodie ertönte, erfasste mich eine Welle von Wärme und Behaglichkeit. Es war nicht nur das fruchtbare, grüne Land, das unsere Liebe zur Heimat der Hobbits geweckt hatte. Es waren die schnuckeligen Häuser mit ihren runden Fenstern und Holztüren, die prächtigen Gärten, die Teiche voller Leben und die ausgetretenen Pfade. Dem Auenland wohnte eine Leichtigkeit inne. Herzlichkeit und Schrulligkeit gingen Hand in Hand, und Friede und Freundlichkeit stärkten die Dorfgemeinschaft.
Ich blickte auf den Ring auf meiner Hand herab. Das Arrangement aus filigranen, sternförmigen weißen Blüten, mit fünf winzigen Diamanten verziert, auf einer Ringschiene aus echtem Silber bot einen bemerkenswerten Anblick und war der teuerste, aber auch der wertvollste Gegenstand, den ich je besessen hatte.
Da kam diese eine Szene, als die Hobbits ausgelassen feierten. Ich spürte einen schmerzhaften Stich in meiner Brust. Der Zusammenhalt, die kollektive Freude, das pure Glück dieser Gemeinde schwappten auf mich über wie eine Naturgewalt und erfassten mich mit einer Wucht, der ich nicht gewachsen war. Wieder schossen mir Tränen aus den Augen, tropften von meinem Gesicht und zeichneten schwarze Flecken auf meinen hellen Sweater. Ich fühlte mich so allein, so unfassbar allein, dass mir alle Lebensfreude wie Sand zwischen den Fingern entrann.
„Wenn du doch bei mir sein könntest ...", schluchzte ich. Heulkrämpfe ließen mich vor- und zurückschaukeln. Während Frodo und andere Hobbits Bilbos Geburtstag feierten, würde Mum keinem weiteren Fest je mehr beiwohnen, würde nie die Geburt ihrer Enkel erleben, nie eine weitere Liebe finden.
Ich wollte nicht mehr hier in dieser Wohnung in Oklahoma leben. Ich wollte nur noch weit weg von hier. Für immer.
Ich presste die Lider zusammen, drückte den Ring mit beiden Händen, bis er sich schmerzhaft in die Haut bohrte, und schrie: „Bring mich weg! Bring mich ins Auenland!"
Nichts geschah. Natürlich nicht.
„Bring mich ins Auenland!", brüllte ich vor Wut und Zorn auf das Universum, das mir den wichtigsten Menschen genommen hatte.
Es knallte.
Lichtfunken explodierten vor meinen Augen und zwangen mich, die Lider zusammenzukneifen. Das Sofa unter mir verschwand, und ich stürzte ins bodenlose Nichts. Meine Schreie gingen unter in einem unerträglichen Getöse.
Der Lärm erstarb mit einem Schlag, kaum war ich auf hartem Grund gelandet.
O mein Gott, es hatte funktioniert! Mein Wunsch hatte mich aus meinem Wohnzimmer heraus an einen anderen Ort katapultiert! Meine Möbel waren verschwunden. Stattdessen erstreckten hohe dunkle Wände, blätterlosen Bäumen nachempfunden, zu meiner Rechten und Linken.
Schweiß brach aus, als ich meine, von Fackeln schwach erhellte Umgebung inspizierte. Verdammt, schoss mir durch den Kopf, das war nie und nimmer das Auenland. Aber zum Glück hatte es mich nicht in die Hochburg der Orks verschlagen.
Kälte kroch durch meine Sporthose und zwang mich, aufzustehen. Ich klopfte mir Sand oder Erde von den Hosenbeinen und ließ meinen Blick schweifen. Schließlich blieb er an zwei Wachen hängen, die rund fünfzig Meter von mir entfernt patrouillierten. Ihre schlanke, hohe Statur und das lange Haar, das über die Brust fiel, identifizierten sie eindeutig als Elben.
Leise stieß ich Luft aus. Glück gehabt! Also waren Galadriel und Elrond nicht weit; hochintelligente, hilfsbereite Elben, die mir helfen würden, wieder nach Hause zu gelangen. Denn plötzlich hatten mich Furcht und entsetzliches Heimweh gepackt.
Doch je länger ich mich umschaute, desto mehr verknotete Beklemmung meine Eingeweide. Welche Mächte auch immer hier am Werk waren, sie hatten mich nicht zur mächtigen Galadriel gebracht.
Ich war bei den Waldelben gelandet.
Shit.
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Die Weltenwanderin I - In Thranduils Reich
FanfictionElben waren gutaussehend, schlank, arrogant und echte A...löcher. Thranduil war der schlimmste von allen. Er hatte mich eingesperrt und meinen Ring an sich gerissen, den einzigen Gegenstand, der mich wieder zurück in meine Welt bringen konnte ...