Kapitel 1

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Laut hallten meine Schritte durch den riesigen Flur, während ich dem weißen, ordentlich gekämmten Haarschopf folgte. Meine Finger langten nach dem kratzigen Stoff meines gebügelten Faltenrocks. Ein billiger Stoff im Vergleich zu dem samtenen Blazer des Mannes, der vor mir durch die große Eingangshalle schritt.
Endlich bekamen meine Finger etwas zu greifen, an dem sie sich festhalten konnten.
Unruhig knetete ich das Material, während ich den Blick durch die weite Fremde gleiten ließ. Ich fragte mich, wie ein Raum so riesig und trotz der weißen Tapete so dunkel sein konnte. Vielleicht lag es an den halbhohen Holzvertäfelungen, die die Wände zierten. Vielleicht lag es aber auch an den riesigen Gemälden von Wäldern und Wiesen, die eingefasst in goldenen Rahmen den Rest der Wände verschluckten.
Eigentlich mochte ich die Farbe Gold. Sie erinnerte mich an die unzähligen filigranen Ketten, die um den Hals von Mama gebaumelt hatten. An ihre Ringe und klimpernden Ohrringe, die im Sonnenlicht gefunkelt und gestrahlt hatten. Aber das Gold der Rahmen und Kerzenständer hier war dunkel und abgetragen, als ob es schon Jahrhunderte alt und nie geputzt worden war. Auch die Polster der Sessel, die an der Wand standen und mit einem dunkelgrünen, mattgelben Blumenmuster bezogen waren, sahen alt und durchgesessen aus. Ein schwerer, muffiger Geruch nach feuchtem Holz, wie im Keller meiner Großeltern damals, umschwirrte meine Nase. Alles hier war so dunkel, so schwer und kalt. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie unheimlich es sein würde, hier nachts im Dunkeln lang zu wandeln.
Eilig bemühte ich mich Schritt zu halten und möglichst leise aufzutreten.
"Du wirst dich hier schon zurechtfinden." Die freundliche Stimme des Mannes riss mich aus den Gedanken. Er war stehengeblieben und ich musste aufpassen, nicht gegen ihn zu stoßen. Ein warmer Ton lag in seiner Stimme, der mich kurz zum Lächeln brachte. Ich vermisste den Klang von Wärme und Geborgenheit. Meine Mama hatte sie mit sich genommen. Die Wärme, die Geborgenheit und das Gefühl von zuhause ...
"Kieran wird erfreut sein, dir beim Eingewöhnen zu helfen." Flüchtig wanderten die schmalen Lippen des Mannes nach oben. Schon jetzt war er mir deutlich sympathischer als anderen Erwachsenen, die meinen Weg gekreuzt hatten, seitdem Mama nicht mehr da war. Die Heimleiterin, die Sonderpädagogen, der grummelige Koch hinter der Theke im Speisesaal.
"Nicht wahr?" Nachdruck legte sich in die Stimme des alten Mannes. Doch die fordernden Worte waren nicht an mich gerichtet. Erst jetzt bemerkte ich, dass wir vor einem hohen Türrahmen standen, der Einlass in einen weiteren riesigen Raum bot. Zu sehr hatte sich mein Blick an dem Mann vor mir fest geeist.
Neugierig lugte ich in das Innere des Zimmers. Mein Blick fiel direkt auf einen Jungen, der in blauem Hemd und heller Stoffhose gekleidet, kerzengerade auf einer ausladenden Couch saß.
"Natürlich, Großvater", antwortete eine klare Stimme, die mir einen Schauer über den Rücken jagte. Die Antwort klang kalt und wenig ehrlich.
"Sehr schön", kommentierte die ältere Stimme neben mir.
Eine Hand legte sich auf meinen Rücken und schob mich in das Innere des Zimmers. Der Raum war fast so riesig wie die Halle, durch die wir geschritten waren, aber wirkte nicht halb so duster. Helles Licht fiel durch eine riesige Fensterfront und ich war froh darüber, dass die schweren samtenen Vorhänge nicht zugezogen waren. Auch wenn die Gitter, die vor dem Fenster angebracht worden waren, einen Anflug von Unwohlsein in mir auslösten. Allerdings schienen alle Fenster hier mit Gittern bestückt zu sein. Bestimmt war das typisch für solch alte Herrenhäuser, dachte ich mir.
Für einen Augenblick schlug mein Herz ein paar Takte schneller, als ich einen Kamin und gemütlichen Sessel erblickte. Wie heimelig es hier wohl sein musste, wenn draußen der erste Schnee fiel. Man könnte sich mit einem der Bücher aus den hohen Holzregalen in den Sessel vor dem knisternden Feuer kuscheln und mit jeder Seite fortgleiten, bis man einschlummerte. Ganz so wie damals, als Mama mir Gute-Nacht-Geschichten erzählt hatte. Sagen über geflügelte Drachen, Märchen von wehklagenden Geistern und warnende Geschichten über andere düstere Kreaturen, die im Dunkeln Menschen und Tiere rissen. Vielleicht nicht die besten Einschlafgeschichten für ein kleines Kind, aber in Mamas Armen war das egal gewesen.
"Setz dich doch bitte, Marisol." Der Mann deutete zu der Couch, die gegenüber dem Jungen stand. Es war haargenau das gleiche dunkelgepolsterte Sofa. Ich fragte mich, wieso man sich zweimal das gleiche Möbelstück hinstellte und warum nicht ein farbenfroheres.
"Danke schön, Herr Delorean", antwortete ich artig und nahm Platz. Sorgsam glättete ich den zerknitterten Stoff meines Rocks. Beim Blick auf mein Gegenüber, der noch immer kerzengerade dasaß, streckte auch ich verunsichert meinen Rücken durch.
Es war merkwürdig. Im Gegensatz zu den anderen Kindern im Heim, die mit krummen Rücken auf den Bänken gesessen hatten und nachmittags wild durch die Flure gerannt waren, bewegte sich der Junge vor mir keinen Millimeter.
Der alte Mann faltete mit zufriedenem Gesicht die Hände. "Sehr schön, dass alles so parfaitement funktioniert hat."
Ich versuchte, meinen fragenden Blick zu verstecken.
Ein gnädiges Lächeln segnete mich von oben herab. "Das war Französisch, meine liebe Marisol, und bedeutet perfekt. Aber keine Sorge, du wirst ab sofort eine exzellente Schulbildung genießen und am Ende nicht nur die französische Sprache parfaitement beherrschen."
Ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange. Der Mann hatte eine merkwürdige Weise sich auszudrücken. Es war anders als die Pädagogen im Heim es getan hatten. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Wörter wie "Alter", "pennen" und "Fresse" jemals seinen Mund verließen. Oder "Fickscheiße" ...
"Danke schön, Herr Delorean", wisperte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte.
"Noch gibt es nichts zu danken", fuhr der Mann fort. "Aber nenn mich ruhig Albert. Oder nein, besser Großvater. Immerhin bist du doch jetzt Teil dieser kleinen Familie."
Ein kribbelndes warmes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus bei dem letzten Wort. Familie ... dafür war ich hier. Eine neue Familie. Jeder brauchte eine und ich sehnte mich danach wie nach der Wärme und einem richtigen Zuhause.
"Sie sieht aber nicht aus wie Familie."
Die Worte des Jungen zerschlugen das zarte Gefühl, das in mir aufgekeimt war, und verursachten ein unangenehmes, wohl bekanntes Ziehen in meinem Magen.
Ich schluckte.
Er hatte Recht.
Er saß da mit seinem hellblonden, ordentlich gekämmten Haaren, während meine dunkelbraunen, dicken Wellen durch den Wind zerzaust bis knapp zu meiner Taille reichten. Seine Augen waren so hellblau und klar wie der wolkenlose Himmel. Meine olivgrün mit braunen Schlieren wie dichter Dschungel. Seine Haut ...
"Kieran, reiß dich zusammen." Die Stimme des Mannes schnitt scharf. "Ich will keine Fremdenfeindlichkeiten in diesem Haus hören."
"Entschuldige, Großvater."
"Ich habe dir mehrfach gesagt, dass man nicht immer alles sagen muss, was man denkt. Außerdem solltest du deine Entschuldigung an Marisol richten."
Während die Worte eben wie aus der Pistole geschossen kamen, malmte der Junge dieses Mal mit dem Kiefer.
"Es ist schon gut", kam ich ihm zuvor. "Ich weiß, dass ich nicht deine richtige, also echte Familie bin, aber ..."
"Kieran ..." Ungehaltenheit durchzog die donnernde Männerstimme, wurde jedoch durch einen plötzlichen Husten unterbrochen.
"Entschuldige bitte", drangen die Worte zu mir hindurch. "Marisol."
Letzteres klang, als ob er mich verfluchen wollte.
"Schwester", korrigierte der Mann. "Marisol ist deine Schwester, Kieran."
"Entschuldige bitte." Ein unehrliches Lächeln legte sich auf das Gesicht des Jungen. "Schwester."
"Macht nichts." Unwohl blickte ich mich um. Ich wollte hier einfach nur noch raus. Da fiel mein Blick auf einen Flügel.
"Spielt ihr Klavier?", klammerte ich mich verzweifelt an den Strohhalm, um der angespannten Stimmung zu entkommen.
"Kieran spielt das Piano." Der Mann nickte. "Ich setze mich nur ab und an an den Flügel, wenn die Arbeit es zu lässt. Hast du ein Instrument gelernt, Marisol?"
Ich schüttelte den Kopf. Bei einer Aufführung im Heim hatte ich einmal die Triangel spielen dürfen. Allerdings wusste ich nicht, ob das bereits lernen war.
"Ach wie schade, aber das ist nicht weiter schlimm", antwortete der Mann. "Du bist noch jung und wirst schnell lernen. Kieran und du besuchen eine exzellente Weiterbildungsstätte. Dort ..."
"Entschuldigen Sie bitte, Herr Delorean." Ein junger Mann mit Schnauzer erschien an der Tür.
"Was gibt es?", kam es unwirsch zurück. "Ich hatte darum gebeten, die kommende Stunde nicht gestört zu werden und unserem neuen Familienzuwachs das Haus zu zeigen."
"Es tut mir leid, aber ..." Der junge Mann presste die Lippen aufeinander. "Man verlangt nach Ihnen."
Ein theatralisches Seufzen entfuhr meinem neuen Großvater. "Nicht einmal eine Stunde ist einem vergönnt. Ich komme sofort. Geben Sie bitte Yuna Bescheid, dass sie Marisol ein wenig das Haus und ihr Zimmer zeigen soll."
Der schnauzbärtige Mann nickte und eilte davon.
"Es tut mir sehr leid, meine Liebe, ich hätte dir gerne etwas mehr Zeit eingeräumt, aber Yuna, deine und Kierans Erzieherin, wird sich um dich kümmern." Erneut folgte ein kurzer Huster begleitet von einem schmerzerfüllten Gesicht. Mitleid keimte in mir auf und ich hätte meinem neuen Großvater gerne ein Taschentuch gereicht. Doch mein Rock besaß keine Taschen, so wie ich nicht einmal ein Taschentuch.
„Ach ja, vielleicht noch ein Punkt. Das Haus ist sehr groß, Marisol", erklärte Großvater, als er sich wieder gefangen hatte. „Du wirst hier genug Platz haben, dich auszuleben. Es gibt jedoch ein paar Räume, die tabu sind."
Mit einem Räuspern trat Großvater ein Stück zurück. „Mein Schlaftrakt im ersten Stock gehört dazu. Und ..." Er deutete aus dem Zimmer raus in die entgegengesetzte Richtung, aus der wir gekommen waren. „Der hintere Trakt zum Nebenflügel. Das Haus ist nicht nur riesig, sondern auch sehr alt und es ist extrem aufwendig, es instand zu halten. Der Trakt ist einsturzgefährdet und für euch Kinder zu gefährlich zum Spielen. In Ordnung?"
Ich nickte, während mein Gegenüber schwieg.
Mit Unbehagen schaute ich wieder zu dem Jungen, der noch immer kerzengerade auf der Couch saß. Allerdings krallten sich seine Hände, die eben noch neben ihm geruht hatten, angespannt in den Stoff des Sofas und er starrte Großvater angesäuert an. Ich wollte auf keinen Fall mit ihm allein gelassen werden.
Für einen Moment musterte Großvater ihn abschätzend. "Ich denke, du hast noch ein paar Hausaufgaben zu erledigen, Kieran."
Dieser reagierte nicht.
"Geh ruhig hoch in dein Zimmer. Du bist für heute Nachmittag entlassen."
In Windeseile schnellte der Junge hoch und marschierte zur Tür.
"Zum Abendessen sei aber bitte pünktlich."
"Ja, Großvater." Doch die Worte verloren sich in den Weiten des Hauses, als der Junge geradezu davonstürmte.
Er konnte es kaum erwarten, wegzukommen. Eine unsichtbare Faust legte sich um mein Herz. Ich hatte gewusst, dass es nicht leicht werden würde. Aber ich hatte gehofft, dass es nicht so unfassbar schwer werden würde.

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