Kapitel 8

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„Mari?"
Erschrocken zuckte ich zusammen und wandte den Blick von dem Display ab, das ein Kurzvideo von einem Rehkitz im Wald zeigte. Am Anfang war es schwer zwischen den Bäumen und Sträuchern zu erkennen, aber nach dem vierten Mal hatte auch ich es entdeckt. Kierans Handy war voll von Fotos und Videos aus dem Wald. Und ich war so dankbar für jedes einzelne.
Es war stockduster in dem Kellerraum geworden, doch das helle Licht des Displays schien mir ins Gesicht, während ich gekrümmt auf dem kalten Boden lag. Die Videos aus Grün, Braun und Blau beruhigten mich. Für einen Moment meinte ich mir die Stimme, die meinen Namen gerufen hatte, nur eingebildet zu haben.
„Mari?", kam es erneut geflüstert und gedämpft durch die Holztür. Doch ich erkannte die Stimme sofort – sie klang jung, nicht alt.
„Kieran?", wisperte ich und ließ das Handy sinken, darauf bedacht, dass es nicht in den Ruhemodus wechselte und es dunkel wurde.
„Ja", kam es zurück und ich hörte, wie jemand sich auf der anderen Seite niederließ. „Kannst du zur Tür kommen?"
Am liebsten wollte ich vor Freude weinen.
„Kannst du mich hier rausholen?", flehte ich und robbte zur Tür.
Ein trauriger Seufzer klang. „Leider nicht. Nur der alte Mann hat den Schlüssel."
Verzweifelt schniefte ich und lehnte mich gegen das kalte Holz an die Stelle, wo ich Kieran vermutete.
„Wie geht es dir?", fragte die Stimme, die so nah und doch so fern klang.
„Es ist kalt", gab ich ermattet zurück. „Und ich habe Hunger."
„Oh, da habe ich etwas." Ein Rascheln erklang. „Komm ein bisschen nach rechts. Also dein rechts, nicht meins. Hier unten bei der Ritze."
Ich lehnte mich zurück und leuchtete mit dem Handy den Spalt unterhalb der Tür entlang. Dort wo er endete, bewegte sich etwas. Ein weißer Zipfel erschien immer wieder, bevor er rübergeschoben wurde.
Eilig kroch ich zu der Stelle und zog.
Eine weiße Serviette.
Ich faltete diese auf und sah ein paar Vollkornkekse.
Hungrig griff ich einen und stopfte ihn in meinen Mund. Ich konnte gar nicht so schnell kauen, wie ich schluckte.
„Hier kommt noch mehr." Wieder erschien ein weißer Serviettenzipfel durch den Spalt. „Yuna hat einige gebacken."
Ich schob mir den nächsten in den Mund und war ihr so dankbar. Und Kieran auch.
„Danke", wisperte ich mit vollem Mund.
Ein leises Lachen ertönte. „Guten Hunger."
Es war ein Wunder, dass er mich überhaupt verstanden hatte.
„Vielen Dank", gab ich zurück, nachdem ich den Rest der Krümmel runtergeschluckt hatte.
„Kein Problem." Kurz blieb es still und nur mein Mampfen war zu hören.
„So haben Mama und ich das auch immer gemacht", sprach Kieran mit gedämpfter Stimme.
Beinahe hätte ich mich verschluckt.
„Sie war auch hier unten?", fragte ich entsetzt.
Schweigen.
„Das tut mir so leid. Wie schlimm", entfuhr es mir. „Warum?"
„Die gleichen Sachen wie bei dir und mir. Wenn sie nicht das gemacht hat, was Großvater von ihr wollte, und sie sich nicht an seine Regeln gehalten hat, dann hat er sie hier unten eingesperrt."
„Das ist schrecklich", gab ich zurück, nachdem auch der letzte Keks verschwunden war und mein Bauch endlich still wurde.
„Warum ist sie nicht mit dir weg?", fragte ich. „Warum ist sie nicht ausgezogen? Oder warum ist sie zurück hierhin mit dir gegangen?" Meine Mama war früh von zuhause weggezogen. Sie hatte gearbeitet und Oma und Opa hatten wir, bevor sie beide an Krebs verstorben waren, nur an den Wochenenden besucht.
Kieran räusperte sich. „Sie hat nie woanders gewohnt. Wir haben nie woanders gewohnt. Sie war sehr jung, als sie ich geboren wurde. Sie ging noch zur Schule."
„Und dein Papa?"
Kurz blieb es still. „Mama hat nie gerne über ihn gesprochen. Und Großvater auch nicht. Er war wohl kein netter Mensch. Wie deiner."
„Das tut mir leid", flüsterte ich. „Es ist wirklich schlimm, dass er nicht bei euch geblieben ist und euch geholfen hat."
Stille.
„Er hat es auch nie versucht", murmelte Kieran von der anderen Seite.
„Wie meiner", hauchte ich.
Ein Knarzen ertönte.
Kieran schien sich gegen die Tür zu lehnen. „Ist bestimmt auch schwierig vom Gefängnis aus."
Ich schlug sanft gegen die Tür. „Das ist nicht lustig."
„Das war nicht als Scherz gemeint. Manchmal ist es auch gut, wenn manche Menschen nicht mehr bei einem sind."
Ich verstand nicht ganz, worauf er hinauswollte, aber hatte nicht die Kraft nachzufragen.
„Was für ein Mist alles", gab ich resignierend zurück und zeichnete Kreise mit dem Finger auf das Holz.
„Tut mir leid, Marisol."
Ich zuckte auf, als er meinen ganzen Namen sagte.
„Wieso?", fragte ich. „Du kannst doch nichts dafür. Du hast mich nach dem Fußballspiel ja sogar noch verteidigt."
„Ich hätte dich warnen müssen", kam es zurück.
„Warnen?"
„Ja, vor alldem hier. Du hättest zurück ins Heim gehen können."
Ich schluckte. Sollte ich lieber zurück ins Heim? Dort war es nicht schön, aber wenigstens wurde man nicht in einen dunklen Keller gesperrt. Ich tippte auf das Handydisplay, damit es hell blieb.
„Du kannst noch zurück ins Heim", ertönte es zögerlich. „Ich kann Großvater sagen, dass ich dich hier nicht haben will. Auch wenn ich nicht weiß, ob meine Worte so viel bringen. Aber wir finden einen Weg."
Ich überlegte. Gerade wollte ich nichts anderes, als diesen Keller und am besten auch dieses Haus zu verlassen. Egal wohin.
Aber das würde auch bedeuten, dass Kieran allein zurückbleiben müsste. Ganz mutterseelenallein würde er Großvater und seine Strafen ertragen müssen.
„Sperrt er dich auch in den Keller?", fragte ich, konnte mich jedoch nicht an eine Nacht erinnern, in der Kieran nicht im anderen Bett gelegen hatte.
„Nein", wisperte es und dumpfes Rumpeln und schmerzerfülltes Stöhnen erklang. Er schien sich umzusetzen.
Da wurde es mir schlagartig klar. Deshalb war er zurückgezuckt, als sich seine Umarmung erwidern und ihn berühren wollte ...
„Schlägt er dich?", fragte ich zaghaft und sofort legte sich ein schwerer Stein in meinen Bauch.
„Seit Mama nicht mehr da ist." Ein gequälter Ton schwang in seiner Stimme mit. „Er meinte bei ihrer Beerdigung, dass er jetzt für meine Erziehung zuständig ist."
Ich wusste nicht, ob jemanden in den Keller sperren, eine Straftat war, aber Schlagen war es bestimmt.
„Du solltest das jemanden sagen", erwiderte ich vehement. „Vielleicht können wir die Polizei mit deinem Handy holen."
Ein höhnisches Lachen erklang. „Niemand wird mir glauben. Das hat Großvater gesagt."
„Vielleicht lügt er."
„Nein, in diesem Fall nicht. Als ich den Stuhl durch das Klassenzimmer geworfen habe, hätte ich suspendiert werden sollen. Aber Großvater hat mit dem Direktor gesprochen und ich konnte ohne eine Konsequenz bleiben." Seine Stimme klang gepresst. „Im Sportunterricht ist mein T-Shirt verrutscht und der Lehrer hat die blauen Flecken gesehen und es ist nichts passiert. Nichts wird passieren. Aber du kannst gehen. Du solltest gehen."
Verzweifelt biss ich mir auf die Wange. „Aber dann bist du hier allein."
Wieder erklang ein falsches Lachen. „Ich bin nicht deine Aufgabe, Mari. Nur weil der alte Sack dir irgendetwas aufgebrummt hat, musst du es nicht tun."
Ich wollte aber. Kieran tat mir leid. Das alles tat mir leid. Und auch wenn ich es hasste, vielleicht könnten wir uns gegenseitig helfen und schützen.
„Ich bleibe", gab ich zurück.
„Das ist eine saudoofe Idee." Wieder raschelte es. „Apropos saudoof. Schieb mir mal die Servietten zurück. Wenn der alte Sack die morgen findet, gibt's richtig Ärger."
Gedankenverloren schob ich die weißen Tücher nacheinander durch den schmalen Schlitz rüber.
„Irgendwann wird er uns das nicht mehr antun können", murmelte ich.
Kieran schien zu zögern. „Ja, irgendwann. Irgendwann bin ich größer und stärker als er und dann liegt dieser verdammte Stock in meinen Händen."
Ein Stock. Ein schwerer Kloß bildete sich in meinem Hals und ich erinnerte mich an meine Oma, die erzählt hatte, wie sie in der Schule noch mit einem Rohrstock geschlagen wurde. Meine Mama hatte mir dann immer die Ohren zugehalten und meine Oma auf Spanisch angeherrscht, sie solle mir nicht solche Horrorgeschichten erzählen. Als ich einmal fragte, was daran schlimmer war, als die Gruselgeschichten, die sie zum Einschlafen erzählte, meinte Mama nur. Das eine ist Fantasie, das andere wahr. Jetzt verstand ich, was sie meinte.
Ich nickte, auch wenn Kieran es nicht sehen konnte. Wenn er größer und stärker war ... bis dahin war es allerdings noch eine lange Zeit. Ich versuchte die Weihnachten und Ostern dazwischen zu zählen, da kam mir eine erhellende Idee.
„Was ist mit Yuna? Vielleicht kann sie uns helfen."
Kratzen auf Holz erklang. „Wird sie nicht."
„Warum? Sie war bisher sehr nett zu mir. Wir müssen ihr nur sagen, was er mit uns macht."
„Mari", kam es zurück.
„Was? Das ist doch eine Idee."
„Warum denkst du hat Yuna die Kekse gebacken und eingewickelt in flache Päckchen auf dem Küchentisch liegen lassen. Das hat sie auch immer gemacht, wenn Mama hier unten war."
Mein Herz setzte einen Moment aus.
Sie wusste es. Sie wusste es und tat nichts.
„Niemand wird uns hier helfen", kam es hoffnungslos zurück und ich meinte einen Kloß in seinem Hals zu hören.
„Wir können uns gegenseitig helfen", flüsterte ich.
„Das sagst du jetzt, aber ..." Seine Stimme zitterte.
„Aber?"
„Es wird nicht das letzte Mal sein, dass du hier unten sein musst. Du musst das nicht tun."
Ich überlegte und sah auf das Display. Es war bereits kurz vor elf.
„Wenn du mir dein Handy gibst, schaffe ich das vielleicht."
„Denkst du, du kannst gleich schlafen?", wechselte Kieran das Thema.
„Wieso? Willst du gehen?" Ich konnte die Panik in meiner Stimme nicht verbergen. Ich wollte nicht wieder allein sein. Noch nicht.
„Nein, alles gut. Großvater ist auf einer Abendveranstaltung und kommt eh erst spät in der Nacht zurück."
Das war gut.
„Soll ich hierbleiben, bis du schläfst?"
„Ja", wisperte ich und legte mich an der Tür hin. „Vielleicht kannst du mir etwas über die Videos aus dem Wald erzählen. Über die Tiere oder so. Aber nichts Gruseliges. Das hat Mama immer gemacht und dann hat es immer ewig gedauert, bis ich eingeschlafen bin."
„Meine Mama hat mir auch immer Geschichten erzählt." Kieran räusperte sich. „Ich fürchte aber, ich bin nicht so gut darin. Aber vielleicht kann ich dir von meiner einzigartigen Heldentat, der Rettung eines Schwarms verletzter Rotkehlchen berichten."
Ich musste grinsen. „Schwarm?"
„Gut, vielleicht waren es nur ein Dutzend."
„Ein Dutzend?"
„Das sind zwölf."
„Zwölf Rotkehlchen hast du gerettet?"
„Ja, naja. Vielleicht auch nur zwei oder eins."
„Eins ist doch auch sehr gut. In jedem geretteten Herz schlägt die Zukunft der Welt weiter, meinte meine Mama mal."
„Das ist mega kitschig."
„Hallo?" Ich schlug gegen das Holz. „Das ist mega schön."
„Wenn du meinst ..."
„Also was ist nun mit deiner Rettergeschichte?", fragte ich mit einem Gähnen.
„Gut, vielleicht hatte meine Mama den Großteil getan, aber ich war der Kopf, der im Hintergrund alles dirigiert hat."
„Angeber", murmelte ich.
Ein kurzes Kichern war zu hören, dann begann Kieran zu erzählen. Von einem Rotkehlchen namens Rotkehlchen und wie er und seine Mama dieses im Wald gefunden hatten. Das Ende bekam ich nicht mehr mit, da meine Lider immer schwerer wurden und ich langsam, aber sicher davon segelte. Hinaus in ein schwarzes Meer. Auf einem kleinen, sicheren Schiff mit Kieran und unseren Mamas, während über uns ein Dutzend Rotkehlchen kreisten.

༺❀༻

Das Knarzen von Holz riss mich aus dem Schlaf.
„Marisol, liegst du vor der Tür?" Eine hässliche alte Stimme erklang.
Sofort drehte sich mir der Magen um.
„Marisol, stehst du bitte sofort auf. Ich kann die Tür sonst nicht öffnen."
Auch wenn ich hundemüde war, erhob ich mich schwerfällig. Prompt schmerzten sämtliche meiner Glieder.
Blinzelnd sah ich mich um. Es war hell geworden. Allerdings nur ein wenig. Die Sonne musste gerade erst aufgegangen sein.
Während ich von der Tür wegrobbte, fiel mein Blick auf das schwarze Handy.
Eilig langte ich nach diesem und schob es hinten in meinen Rockbund.
„Guten Morgen." Großvater stand im Türrahmen wie ein Monster aus einer der Gruselgeschichten von Mama. Abwartend starrte er mich an.
Zuerst verstand ich nicht, was er wollte. Dann klickte es in meinem verschlafenen Kopf.
Artig stand ich auf und strich den immer noch verdreckten Rock glatt. „Entschuldigung, Großvater und guten Morgen."
„Warum hast du nicht auf dem Bett geschlafen?"
Mein Blick fiel auf das hölzerne Ungetüm in der Ecke des Raums, das ich kaum als Bett bezeichnet hätte.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Nun, die Kleidung war ja ohnehin schon dreckig. Bring sie am besten zu Yuna. Sie wollte heute ohnehin die Wäsche machen."
Mein Magen knurrte, bevor ich antworten konnte.
„Und sie kann dir ein kleines Frühstück bereiten. Kieran und ich haben schon gegessen. Ich muss auch gleich los. Also schnell raus hier."
Erleichterung machte sich in mir breit, als ich mich an ihm vorbei nach draußen schob. Kaum war ich über die Schwelle getreten, machte mein Herz einen Freudensprung. Endlich raus aus diesem Alptraumraum.
„Du kannst dich nach dem Essen etwas ausruhen. Yuna wird später noch einmal deine Hausaufgaben mit dir durchgehen ..."
Während Großvater sprach und wir den Keller verließen, hörte ich nur zur Hälfte zu. Auch als Yuna überfröhlich auf mich einredete, während ich in der Küche einen Löffel Müsli nach dem anderen in den Mund schob, reagierte ich kaum.
Ich war zu platt.
Als ich fertig war, wollte ich nichts sehnlicher als in mein Bett. Da erfüllten plötzlich warme Klänge das Haus.
Wie ferngesteuert folgte ich ihnen. Es war eine so harmonische, sanfte Melodie, dass ich nicht anders konnte.
Im Salon angekommen, entdeckte ich Kierans blonden Schopf hinter dem Flügel. Träge wanderte ich zu ihm rüber.
Er sah nicht auf, sondern rückte auf dem Schemel ein Stück zur Seite.
Kraftlos ließ ich mich neben ihn sinken.
Da wechselte die Melodie. Es war eine, die ich kannte, ein leichtes Stück. Kieran hatte mir ein paar Tastenschläge beigebracht, die seine begleiteten.
Ich hob meine Finger und schlug die Tasten an.
Immer wieder. Mal traf ich den Rhythmus, mal nicht. Solange, bis ich zu müde war.
Ich ließ meine Hand in den Schoß und meinen Kopf auf Kierans Schulter sinken. Wieder wechselte die Melodie. Das Beerdigungslied von damals erklang. Ich spürte, wie sich eine Träne löste. Und eine weitere. Damals. Als ich noch nicht wusste, was für ein Horror in den Mauern dieses Hauses lag.
Aber die Schulter, auf der ich ruhte, und Kierans sachte, regelmäßige Atmung beruhigten mich. Ich lauschte den Klängen und segelte ein weiteres Mal davon. Doch dieses Mal war das Meer blau. So klar und blau wie der Himmel.

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