Kapitel 4

3 1 0
                                    

"Sicher, dass du nicht mal mit Eis essen gehen magst?", fragte Lilia und richtete sich ihren Zopf, während wir über den Schulhof liefen.
"Leider nein, ich muss aktuell viel üben und meine Noten verbessern", antwortete ich und seufzte. Die Hilfe von Großvater hatte ich mir eindeutig anders vorgestellt. Jeden Tag saß ich nun mit Yuna zusammen und kämpfte mich durch die Hausaufgaben. Doch nicht nur das. Jedes Mal gab es noch weitere Übungsaufgaben, sodass es draußen schon dunkel war, wenn ich meinen Stift niederlegte. Ein oder maximal zwei Stunden blieben bis zum Abendessen. Dafür hatte Großvater vorerst davon abgesehen, dass ich Zeit mit Kieran verbringen musste. Nur in der Nacht schliefen wir noch in ein und demselben Zimmer.
Mittlerweile hatte ich mich an das Rascheln der Decke und meinen schweigsamen Zimmergenossen gewöhnt. Doch die Erinnerungen an Mama und die Tränen kamen immer wieder.
"Aber man kann doch nicht immer üben." Mei rüttelte mich an der Schulter. "Man muss auch mal Spaß haben."
"Ja, was machst du für spaßige Sachen?", fragte Halima. "Banu und ich schwimmen gerne. Und ich male außerdem noch. Meine Eltern haben mir eine riesige Staffelei gekauft und Leinwände. Die sind bestimmt drei Meter hoch und breit."
"Einen halben Meter vielleicht", raunte Banu.
"Jaja." Halima winkte ab. "Sagte ich ja. Was machst du, Mari?"
Ich zuckte mit den Schultern. "Aktuell lerne ich. Eigentlich wollte ich Klavier spielen, aber keine Zeit." Ich grübelte. "Und Fußball, aber das findet Großvater nicht gut."
"Waaaas?", rief Mei. "Ich spiele Fußball in der AG. Das ist super geil."
"Meiiii", kam es zurück.
"Was denn? Geil ist geil."
"Das ein super schreckliches Wort." Lilia schüttelte den Kopf. "Wenn dein Großvater nicht will, dass du Fußball spielst, solltest du es nicht tun. Aber vielleicht kannst du Klavier spielen, wenn du mehr Zeit hast. Dein Bruder spielt doch. Er hat sogar bei der Winteraufführung damals auf der Bühne gespielt."
Entsetzt biss ich mir auf die Innenseiten meiner Wangen.
"Oh, was ist passiert?", fragte Halima neugierig.
Ich ballte meine Fäuste.
"Er hat einen Stuhl nach dir geworfen?", fragte Mei mit ernster Miene.
Den Kopf schüttelnd verschränkte ich die Arme. Ich mochte nicht von dem Streit erzählen. Wobei sie mir vielleicht dabei helfen konnten, Kieran zu helfen, um hier bleiben zu können.
"Ich habe ihn wegen der Therapie gefragt", flüsterte ich.
"Oh, und dann?" Neugierig betrachtete Halima mich.
"Er war sehr wütend."
"Ja, sowas fragt man auch nicht einfach", erklärte Banu.
"Aber ihr meintet doch ..."
"Ja, der Junge spinnt doch auch." Mei klopfte mir auf die Schulter. "Der hat das Problem, nicht du."
Ich lächelte gequält. Wenn sie doch nur Recht hätte.
"Du möchtest dich wirklich gut mit deinem Bruder verstehen, oder?", fragte Lilia nachdenklich.
Ich nickte zaghaft. "Ja, ich möchte ihm helfen. Aber es ist so schwer ..."
"Ja, unser Bruder war auch richtig schwierig. Aber du musst dann einfach nicht aufgeben", fachsimpelte Halima. "Einfach immer freundlich bleiben und es probieren."
"Naja, wenn er gemein zu ihr ist", kommentierte Banu.
"Und Stühle wirft", ergänzte Mei.
"Meine Mama sagt immer, Menschen brauchen Zeit. Viel Zeit." Lilia lächelte mir aufmunternd zu. "Du wirst schon sehen. Ein bisschen viel Zeit und er wird auch nett zu dir sein."
Zeit ... wenn ich die nur hätte. Aber sie hatte Recht. Ich durfte nicht so einfach aufgeben.

༺❀༻

"So, Marisol, ich denke, damit wären wir für heute durch."
Am liebsten hätte ich einen Jubelruf ausgestoßen, aber ich war zu erschöpft. Mein Kopf rauchte und ich blickte aus dem Fenster. Wenigstens war es draußen noch hell.
"Danke Yuna", sagte ich und räumte meine Hefte zusammen.
"Du brauchst dich nicht immer zu bedanken, Mari." Liebevoll lächelte sie mich an. "Außerdem machst du wirklich gute Fortschritte. Vielleicht kann ich noch einmal mit Herrn Delorean sprechen, dass wir die Übungseinheiten etwas runterschrauben. Du brauchst auf jeden Fall ein wenig Ausgleich."
"Ausgleich?"
"Ja, etwas Freizeit." Yuna blickte hinaus. "Magst du nicht schon einmal rausgehen und etwas auf der Wiese spielen?"
Sehnsüchtig folgte ich ihrem Blick, widmete mich dann aber wieder dem Schreibtisch. "Ich muss aber noch zusammenräumen."
Eine Hand legte sich auf meine. Ein warmer Schauer durchflutete mich.
"Alles gut, das mache ich heute. Dann kann ich auch gleich mit deinem Großvater sprechen."
Einen Moment überlegte ich. Doch die Vorfreude siegte.
"Okay, vielen Dank, Yuna."
"Bitte, bitte, Mari."
Aufgeregt hüpfte ich vom Stuhl und lief hinaus. Kurz vor der Tür wäre ich beinahe in jemanden hineingebrettert.
"Nana, warum so stürmisch?", fragte eine wohlbekannte Stimme.
"Tut mir leid, Großvater", entschuldigte ich mich.
"Alles gut, aber im Haus wird nicht gerannt, in Ordnung?"
Ich nickte.
"Wo ist Yuna?"
Eilig erklärte ich ihm, dass sie mich für heute früher rausgelassen hatte. Dabei blinzelte ich nervös an Großvater vorbei zu dem Fenster hinter Gitterstäben. Nicht dass die Sonne unterging, bevor ich draußen war.
"Immer langsam mit den jungen Pferden. Aber wenn du so beachtliche Fortschritte gemacht hast, dann hast du dir etwas freie Zeit verdient."
"Danke Großvater." In Windeseile stürmte ich an ihm vorbei und hörte nur noch ein "Aber nicht die Kleidung schmutzig machen" und "Sei pünktlich zum Abendessen wieder da", begleitet von einem rauen Husten.
Jaja, die teure Kleidung und das Abendessen. Durch die große Eingangstür stürmte ich hinaus. Freudestrahlend sprang ich die Stufen hinunter, als ich das Zuschlagen einer Autotür hörte.
Neugierig sah ich mich um.
Ein Mann mit grauer Jacke stieg in seinen Wagen. Ich kannte ihn. Es war der Arzt.
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ging es Großvater so schlecht? War der Husten vielleicht doch gefährlicher, als er immer sagte?
Nachdenklich schlenderte ich den Kiesweg entlang und schlug dann den Weg in Richtung Wiese ein.
Am liebsten hätte ich mich in das Grün geworfen und wäre herumgerollt.
Aber nicht die Kleidung schmutzig machen, tönte es durch meinen Kopf. Ich durfte Großvater nicht aufregen, nachher würde es ihm noch schlechter gehen.
Vielleicht könnte ich ihm ein paar Blumen pflücken. Oder einen Kranz aus Gänseblümchen basteln, wie Mama es mir damals gezeigt hatte. Darüber würde er sich bestimmt freuen. Aber ob er ihn auch tragen würde? Ich musste lachen. Das Bild von Großvater mit einem Blumenkranz war zu absurd.
Gerade hatte ich ein paar Gänseblümchen gerupft, da bemerkte ich aus dem Augenwinkel eine vorbeihuschende Gestalt.
O nein, war meine Draußenzeit schon vorbei. Ich hatte noch gar nicht genug Blumen gepflückt.
Seufzend erhob ich mich, aber es war nicht Großvater, den ich erblickte. Oder Yuna.
Kieran streifte mit einem Stock durch die hohen Gräser.
In diesem Moment bemerkte auch er mich.
Ich nahm die Gänseblümchen in eine Hand und winkte ihm mit der freien zu.
Er nickte nur kurz und setzte seinen Weg fort.
Aber ich gab nicht auf. Ich durfte nicht aufgeben. Wie Halima und Lilia gesagt hatten. Beim Lernen hatte es immerhin auch geklappt.
"Kieran", rief ich und rannte durch die hohen Gräser hinter ihm her.
Er reagierte nicht.
Ein wenig außer Atem kam ich neben ihm an und lief ein Stück mit. Mit gebührend Abstand natürlich.
"Wo gehst du hin?", fragte ich.
Er schnaubte. "In den Wald."
"O, es gibt einen Wald?"
Verwirrt sah er mich an und deutete dann mit seinem Stock nach vorne.
Tatsächlich erstreckte sich ein gutes Stück vor uns ein Meer aus Bäumen. Aus den Fenstern der Zimmer im Haus, in denen ich mich aufhalten durfte, hatte ich immer nur die Wiese gesehen.
"Und was machst du im Wald?"
"Allein sein", kam es knapp zurück.
"Hm, darf ich auch in den Wald kommen und mit dir allein sein?"
"Das macht überhaupt keinen Sinn, Marisol."
"Mari."
Fragend sah er mich an.
"So nennen mich meine neuen Freundinnen in der Schule und Yuna", erklärte ich.
Kurz betrachtete er mich. "Okay, Mari. Das macht immer noch keinen Sinn. Ich will allein sein, nicht zu zweit."
Vorsichtig verkleinerte ich die Distanz zwischen uns. "Es ist aber nicht immer gut, allein zu sein."
"War ich letztes Mal nicht deutlich genug?", fragte er barsch.
"Doch sehr deutlich." Meine Finger umklammerten die Stängel der Blumen.
"Und gemein ...", wisperte ich.
Kieran warf den Stock weg und ich zuckte kurz zusammen.
"Ich brauche keine Schwester."
Angestrengt versuchte ich Schritt zu halten. "Vielleicht eine Freundin?"
Er sog scharf die Luft ein. "Auch das nicht."
"Aber jeder braucht Freunde."
"Ich habe welche, okay. Deshalb brauche ich dich nicht." Kieran beschleunigte seinen Schritt. "Du brauchst mir auch nicht hinterherzulaufen. Es wird eh schon dunkel."
Ich blinzelte um mich herum. Stimmt, die Sonne war mittlerweile untergegangen. Rosa und fliederfarbene Wolken zierten den goldenen Himmel, an der Stelle, an der sie versunken war. Eine sachte Briese wehte uns den Duft von frisch gemähtem Rasen entgegen. Wie wunderschön.
"Du läufst mir ja immer noch nach." Kieran rieb sich entnervt die Stirn. "Was hat es überhaupt mit den traurigen Blumen da auf sich?"
Ich blickte zu den Gänseblümchen. O je, ich hatte wohl ein wenig zu fest zugedrückt.
"Das sind Blumen für Großvater."
Kieran lachte höhnisch. "Ernsthaft? Mal davon abgesehen, dass die Dinger halbtot aussehen, verdient der Mann keine Blumen."
"Aber er ist krank. Der Arzt war heute wieder da."
Augenblicklich blieb Kieran stehen und ich wäre beinahe in ihn reingestolpert.
"Der Arzt?"
"Ja, der Mann mit der weißen Kleidung, der auch letztens da war. Wegen Großvaters Husten ..."
Kierans Züge spannten sich an, als er zu dem Herrenhaus in der Ferne blickte. Ich meinte einen Anflug von Zorn in den himmelblauen Augen zu sehen, die so fern von dem warmen wunderschönen Abendhimmel waren.
"Deshalb ...", zischte er.
Neugierig musterte ich ihn. "Was deshalb?"
Seine Fäuste ballten sich. Er war wütend und doch meinte ich einen Anflug von ... Tränen zu sehen.
Ich konnte es gar nicht begreifen, da marschierte er wieder los. Zügiger als zuvor bahnte er sich seinen Weg durch das Grün.
"Kieran?" Ich lief hinter ihm her, doch schaffte es nicht ihn einzuholen. "Was ist los?"
"Gar nichts", schrie er zurück. "Verschwinde einfach."
"Aber wo willst du hin?"
"In den Wald. Sagte ich doch."
"Aber es ist doch schon so spät. Gleich gibt es Essen und es wird dunkel." Ein Schauer jagte mir über den Rücken. Ich hasste es, wenn es dunkel wurde.
"Mir doch egal. Ich komme halt später."
Das würde Großvater nicht gefallen.
"Kieran", keuchte ich, aber dieser entfernte sich immer weiter von mir und war schon fast bei den ersten hohen Bäumen angekommen.
"Verschwinde, Marisol", tönte es und er rannte immer schneller.
Kurz überlegte ich, ob ich ihm folgen sollte. Ich wollte nicht in den Wald, wenn es dunkel wurde. Ich wollte überhaupt nicht draußen sein, wenn es dunkel wurde. Allerdings machte ich mir Sorgen. Irgendetwas stimmte nicht mit Kieran und er durfte jetzt nicht allein sein. Nicht, dass ihm etwas passierte.
Ich fasste mir ein Herz und lief los in das dunkelgrüne Ungewisse.
Ich wollte doch nicht einfach aufgeben ...

༺❀༻

"Hallo?"
Niemand antwortete.
„Hallo?", wisperte ich erneut.
Doch auch dieses Mal war nur das Rascheln der Blätter zu hören.
„Hallo?" Langsam stieg Panik in meiner Stimme und mir hoch, ebenso wie die Kälte meine Beine. Doch ich nahm sie kaum wahr.
Hilflos stolperte ich vorwärts und wäre beinahe im dichten Dickicht hängen geblieben. Dickicht, das ich kaum mehr sehen konnte.
Mein Herz hämmerte wie wild und ich rief erneut: "Hallo? Ist da jemand?"
Doch niemand antwortete. Es war niemand da, egal wie oft ich rief. Mein Körper erzitterte, während ich immer panischer weiter durch die Bäume irrte. Es war mittlerweile stockdunkel und die nackte Angst glomm in mir auf.
Es knirschte und knackte im Geäst. Doch ich sah nichts.
Ich sah gar nichts mehr.
„Hilfe", wisperte ich mit brüchiger Stimme.
Bibbernd lehnte ich mich an einen Baum und sah mich suchend um. Doch ich wusste nicht, wo ich war. Schemenhaft hoben sich die schwarzen Baumkronen empor. Wie unheimliche Schauergestalten umringten sie mich.
Erneut ertönte ein Knacken. Doch es kam nicht von mir.
Wie festgefroren presste ich mich an die eiskalte Rinde.
Da erklang es wieder.
Schritte. Es klang wie Schritte.
O bitte nicht ...
Blanke Furcht zerriss meinen Brustkorb und presste die Luft stoßweise aus mir heraus.
Japsend und zitternd sank ich an dem kalten rauen Stamm hinab. Mühevoll versuchte ich meine Schnappatmung unter Kontrolle zu bringen. Es half nichts.
Die Geräusche.
Die Dunkelheit. Warum war es nur so pechschwarz hier draußen?
Verzweifelt hielt ich mir die Ohren zu und kniff die Augen zusammen. Ich konnte nicht mehr. Ich hatte Angst. So viel Angst.
Unter Tränen ließ ich mich weiter zu Boden gleiten. Es war feucht und moderig. Aber ich konnte einfach nicht mehr.
Mit vor Weinen bebendem Oberkörper krümmte ich mich zusammen, noch immer meine Hände fest auf meine Ohren gepresst. Ich wollte hier weg. Ich wollte nach Hause. Ich wollte zu meiner Mama.
"Mama ..." formten meine zitternden Lippen, auch wenn es niemand hören konnte.
Ein Heulkrampf durchschüttelte meinen erschöpften Körper. Es war so furchtbar kalt.
Mama ...
Ein Rufen erklang.
Ich presste meine Hände noch fester auf meine Ohren und die Augen zu.
Wenn es dunkel ist, sind böse Menschen unterwegs.
Deshalb bleib lieber zuhause im sicheren, hatte Mama gesagt. Und wenn du sie rufen hörst, ignorier sie. Und wenn sie hinter dir herkommen, lauf weg so schnell du kannst.
Aber ich konnte nicht weglaufen. Ich konnte einfach nicht ...
Erneut das Rufen.
Eine Männerstimme.
Nein, bitte nicht.
Bei Männern musst du noch schneller laufen, hatte Mama gesagt.
Ich meinte meinen Namen zu hören.
Sie würden mich finden. Sie würden mein Wimmern hören.
Wenn es dunkel ist, sind böse Menschen unterwegs.
Und es war keiner an diesem schrecklichen Ort, der mir helfen konnte.
Wie ein Embryo rollte ich mich zusammen. Und dachte an die einzige Person, zu der ich in diesem Moment wollte.
Mama ...

Echoes in TimeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt