Kapitel 2

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Stillschweigend saßen wir am ellenlangen Holztisch, an dessen Kopfende mein neuer Großvater thronte. Zu seiner Linken saß Kieran, starr wie eine Kerze und mit todernster Miene wie ein ... ich grübelte. Wie unser Heimleiter, als jemand ihm einen Eimer Gelee übergekippt hatte, oder die Vertretungslehrerin, die aus Versehen vor versammelter Klasse einen Pups hatte fahren lassen. Wobei das bei Kieran bestimmt verhindert wurde durch den Stock in seinem Po. Bei dem Gedanken musste ich schmunzeln.
"Ein reizendes Kleid, das Yuna dir angezogen hat", erklang Großvaters Stimme.
Ich blickte hinab zu dem beigen, glatt gebügelten Stoff. Als Yuna mich in mein neues Zimmer geführt hatte, hatte dieses bereits sorgsam ausgebreitet auf dem Bett gelegen. Ein Kleid, das man sonntags in der Kirche trug, mit weißem Kragen und Puffärmeln. Ein Paar beige Lackschuhe und eine Schleife für mein Haar waren ebenfalls bereitgelegt worden.
Nachdem Yuna sich mit Kamm und Bürste durch mein dickes Haar gekämpft hatte, hatte sie zur Schere gegriffen. Es hatte ein paar Tränen und Flehen gekostet, bis eine Strähne nach der anderen zu Boden fiel. Ich mochte mein langes Haar. Es war wie das von Mama.
„Du hast sehr dickes Haar, liebe Marisol", hatte Yuna gesagt. „Das wird unglaublich schnell filzig und unordentlich. Glaub mir, es macht Großvater eine riesige Freude, wenn es kurz und gepflegt ist."
Schniefend hatte ich genickt. Ich wollte Großvater eine Freude machen und dass er mich hierbehielt. Nach einer festen, tröstenden Umarmung von Yuna, hatte sie die obere Partie meines nun schulterlangen Haares abgeteilt und mit der Schleife zusammengebunden.
"Gefällt es dir nicht?", fragte Großvater.
"Oh doch, doch", erwiderte ich rasch. Auch wenn es ein hübsches Kleid war, gefiel es mir nicht so gut, wie die Kleider die Mama früher für mich ausgesucht hatte. Gerüschte Sommerkleider in hellem Pink, Knallgelb oder Himmelblau. Bei dem Gedanken an letzteres fiel mein Blick auf den Jungen gegenüber von mir.
Seine Hose hatte ich beim Reinkommen gesehen, war so beige wie mein Kleid. Aber das Hemd war Himmelblau, wie mein Sommerkleid damals. Und wie seine Augen, die leer auf den Tisch starrten.
"Sehr schön", quittierte Großvater. „Das ist doch etwas ganz anderes als die Kleidung aus dem Waisenheim, nicht wahr?"
Ich nickte. "Ja, der Stoff ist ... anders. Viel weicher und flauschiger."
"Angenehmer meinst du wohl."
"Ja, und es ist auch nicht so groß und ..."
"Die Passform sitzt deutlich besser", fuhr er dazwischen.
In dem Moment betrat der junge Mann mit dem Schnauzer von heute Nachmittag den Raum, gefolgt von Yuna, die mir beim Anziehen geholfen hatte. Beide brachten nach und nach Speisen zum Tisch, sodass dieser sich zunehmend füllte.
"Woah, so viel Essen." Staunend betrachtete ich die Köstlichkeiten, deren dampfender Duft mir das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. "Kommt noch jemand?"
"Du meinst, ob wir noch Besuch erwarten?" Ein freundlich nachsichtiges Lächeln legte sich auf Großvaters Gesicht. "Nein, das ist alles für uns. Du hast doch bestimmt Hunger nach der langen Fahrt."
"Einen Bärenhunger." Ich musste grinsen, während Yuna den Teller vor mir mit Kartoffeln, Fleisch und buntem Gemüse füllte. Letzteres mochte ich zwar nur teilweise, aber mein Magen knurrte bereits leise.
"Dann allen einen guten Appetit", sprach Großvater.
"Guten Appetit", wiederholte Kieran und ich tat es ihm gleich.
Ich steckte meine Gabel in das Fleisch und hob sie hoch, um einen großen Bissen zu nehmen.
"Na na, Marisol." Ein Lachen entwich Großvater. "Wir schneiden erst das Fleisch und nehmen dann kleine mundegerechte Bissen."
Mit großen Augen sah ich ihn.
"So wie Kieran."
Mein Blick fiel auf den Teller gegenüber, auf dem Kieran mit dem silbernen Messer durch das rosige Fleisch schnitt.
"Oh, tut mir leid. Das wusste ich nicht."
"Das macht doch nichts. Es ist bestimmt eine große Umstellung für dich im Vergleich zum Heim." Ein Hüsteln ertönte. "Außerdem sage ich immer. Jeder kann einmal einen Fehler machen."
"Okay." Ich nickte.
"Aber keinen zweiten ..." Es war Kierans Stimme, die gepresst erklang.
Fragend sah ich von ihm zu Großvater.
"Vielleicht magst du deine Aussage noch etwas ausführen, Kieran, damit Marisol versteht, was du meinst", tadelte Großvater. "Es ist nicht die feine Art, nichtssagende Wortfetzen in den Raum zu werfen."
Kieran legte das Besteck nieder.
Wie auswendig gelernt setzt er an: " Jeder darf einmal stolpern, doch wer zweimal fällt, braucht Konsequenzen, damit es kein drittes Mal passiert."
Ich verstand nicht, was er meinte. Wer war hingefallen?
Doch Großvater hielt es nicht für nötig, den merkwürdigen Spruch noch weiter auszuführen und Kieran widmete sich wieder seinem Essen.
Unwohl versuchte ich das dicke Stück Fleisch zu schneiden, war dabei aber wenig geschickt. Mehrfach rutschte ich mit dem Messer ab und die Spitze kratzte unangenehm über das Porzellan. Aus Angst, den kostbaren Teller kaputt zu machen, widmete ich mich stattdessen den Kartoffeln.
"Und Marisol, was für Freizeitaktivitäten bist du im Heim nachgegangen?"
Fragend sah ich Großvater an.
"Er meint Hobbies", murmelte Kieran, woraufhin er sich einen giftigen Seitenblick unseres Großvaters einhandelte.
"Oh, ich ähm ..." Kurz überlegte ich, dann überkam mich ein Strahlen. "Fußball. Ich habe im Heim super gerne Fußball gespielt."
Während von Kieran ein grunzender Lachlaut zu hören war – war er etwa ein Schwein mit Stock im Po? – wiegte Großvater den Kopf.
"Fußball ist ..." Er räusperte sich. "Nun doch eher eine Männersportart und eine äußerst primitive noch dazu."
"Ich mag Fußball", entgegnete ich – keine Ahnung, was primitiv hieß. Im Heim hatten wir außerdem immer zusammengespielt. Mädchen und Jungen.
"Ich würde sagen, Marisol", sprach Großvater. "Ballett und Klavier sollten es für den Anfang tun. Bei letzterem kannst du gemeinsam mit Kieran üben. Das schweißt euch Kinder bestimmt enger zusammen."
"Spielst du gerne Klavier?", fragte ich Kieran, der wieder schweigsam mit seinem Essen beschäftigt war.
Er zuckte mit den Schultern.
"Kieran", mahnte Großvater, "manchmal sagen Worte doch mehr als Gesten."
Kieran blickte vom Essen auf. "Klavierspielen ist großartig."
Wow, er war ein noch schlechterer Lügner als die Krankenschwestern damals, die meinte, dass Mama bald wieder gesund sein würde.
"Was machst du noch so?", fragte ich hoffend, dass wir vielleicht doch so etwas wie ein nettes Gespräch führen konnten.
"Tennis und Schwimmen. Das ist beides genauso großartig wie Klavier."
"Ironie ist ein Mittel des Schwachen, Kieran", zischte Großvater in dessen Richtung.
"Oh Schwimmen würde ich auch gerne lernen", warf ich eilig ein, um die Stimmung wieder zu heben.
"Wir können dich gerne zu einem Kurs anmelden", pflichtete Großvater mir bei. "Schwimmen zu können ist überlebenswichtig."
Das hatte meine Mama auch gesagt. Leider hatte sie es nicht mehr geschafft, es mir beizubringen. Aber jetzt würde ich es lernen und sie würde im Himmel bestimmt froh sein.
Mit einem eifrigen Nicken widmete ich mich wieder dem Fleisch.
"Absaufen wär doch auch ein spannendes Hobby", kam es bissig zurück.
Geschockt rutschte ich mit dem Messer ab und das Metall flog mir aus der Hand auf den Tisch.
Mit einem lauten Klirren landete es ein gutes Stück entfernt, mitten auf der Platte.
"Fickscheiße", entfuhr es mir.
Im nächsten Moment schlug ich mir die Hand auf den Mund.
Ein ansteckendes Lachen ertönte. Und ein empörtes "Marisol."
"Es tut mir leid, Großvater", erwiderte ich schnell, schluckte mein eigenes Lachen hinunter und senkte den Kopf. "Es ist mir einfach so rausgerutscht. Es kommt nicht wieder vor."
Das Lieblingswort unseres Sonderpädagogen aus dem Heim hatte sich in meinen Kopf gebrannt. Wir hatten es alle so lustig gefunden, wenn es ihm bei jedem noch so kleinen Missgeschick rausgerutscht war. Auch wenn er irgendwann stark bemüht war, das Fluchwort zu vermeiden, war es zu spät gewesen, es aus unserem Wortschatz zu entfernen.
Ein Schnauben folgte. "Jeder kann mal einen Fehler machen, aber du solltest wissen, dass wir hier ein anderes Vokabular pflegen als im Heim. Es wäre wünschenswert, wenn du dieses so schnell wie möglich erlernst und solche Begriffe, dauerhaft aus deinem Kopf streichst."
"Ja, mache ich." Ich hob den Kopf und fischte nach dem Messer, als mir Kierans Grinsen auffiel. Bevor ich reagieren konnte, kam Großvater mir zuvor.
"Und du solltest wissen, Kieran, dass so etwas nicht lustig ist."
Sofort legte sich wieder die starre Maske auf dessen Gesicht und das Lächeln verschwand. Wie schade, aber vielleicht konnte ich das Lachen von eben irgendwann noch einmal hervorkitzeln. Es hatte einen schönen Klang. Schöner als das fiese Grunzlachen von davor.
"Ich habe übrigens noch eine Überraschung für euch Kinder", brach Großvater die Stille.
Aufmerksam blickten wir zu ihm rüber.
"Auch wenn dir dein Zimmer bestimmt gefällt Marisol, fände ich es begrüßenswert, wenn du die ersten Nächte bei Kieran schlafen könntest."
Mit einem Scheppern fiel ein Besteckstück auf den Tisch. Doch dieses Mal war es – trotz meiner fehlenden Schneidkünste – nicht meins.
"Was?", rief mein Gegenüber fassungslos.
"Kieran!" Die Hand von Großvater donnerte auf den Tisch, sodass wir beide zusammenzuckten. "Ich habe dir schon mehr als zweimal gesagt, dass ich dieses Was oder Hä nicht ausstehen kann. Du hast sehr genau verstanden, was ich gesagt habe."
"Aber ich will nicht, dass sie in meinem Zimmer schläft ..."
"Nun, kleiner Mann. Das hast du nicht zu entscheiden und in Anbetracht deiner aktuellen Lage, solltest du dich über etwas Gesellschaft freuen."
Kierans Fäuste ballten sich.
"Du brauchst jetzt auch keinen deiner kleinen Aufstände abzuhalten. Die Entscheidung ist gefallen." Großvater wandte sich an mich. "Weißt du, Marisol, Kieran hat vor ein paar Monaten ebenfalls seine Mutter verloren."
Erneute schloss sich die altbekannte Faust um mein Herz und drückte zu. Mama ...
Ich schluckte und schob das Bild von ihr weg. Ich wollte jetzt nicht an sie denken, sonst würde ich wieder weinen.
Ein Knall ließ mich zum zweiten Mal an diesem Abend zusammenzucken.
Kieran hatte nun auch sein Messer auf den Tisch gepfeffert und stand auf.
Großvater musterte ihn kühl. "Das Essen ist noch nicht vorbei. Setz dich wieder hin."
Dieser verschränkte die Arme. "Warum? Willst du hier weiter so tun, als ob alles wieder normal ist? Denkst du, wenn ein Familienmitglied stirbt, kann man es einfach so durch ein neues ersetzen? Denkst du, wenn du mir irgendein dahergelaufenes Mädchen als Schwester vorsetzt, dass dann alles wieder gut ist?" Kurz hielt er inne, bevor er mit dem gleichen falschen Lächeln von heute Nachmittag fortfuhr. "Ein Hund hätte es auch getan."
Ich presste meine Lippen aufeinander.
"Deine frühpubertären, dümmlichen Sprüche kannst du sparen, Kieran. Im Übrigen will hier niemand deine Mutter ersetzen." Ein Stöhnen erklang. "Wirklich nicht ..."
"Sehr schön." Kaum sichtbar bemerkte ich, wie Kierans Hand kurz zitterte, bevor er mit klarer Stimme fortfuhr: "Dann kannst du dir ja auch deine dümmlichen Spiele sparen, alter Mann."
Stille.
Ein schweres Atmen erklang von Großvater. " Sei froh über die Anwesenheit unseres Neuzugangs, Kieran. Hiermit bist du in der Tat für heute Abend entschuldigt und kannst sofort auf dein Zimmer gehen."
Kieran wollte in Richtung Tür marschieren, aber Großvater war noch nicht fertig. "Das heißt aber nicht, dass die Konsequenzen für deine heutige Entgleisung damit aufgehoben sind. Und es bleibt, bei dem was ich gesagt habe, ab sofort teilen Marisol und du dir das Zimmer. Vielleicht bringt das ein wenig Vernunft in deinen Hitzkopf."
Ohne ein weiteres Wort verschwand Kieran und ich knibbelte nervös an der Tischdecke.
"Lass das bitte, Marisol." Großvater wandte sich mir zu.
Ich gehorchte sofort. Flüchtig verspürte ich den Wunsch, Kieran zu folgen und nicht an diesem Tisch zu bleiben.
Doch da legte sich ein warmer Ausdruck auf das Gesicht meines neuen Großvaters. "Ich entschuldige mich für sein Verhalten gerade. Er wird etwas Zeit brauchen, aber ich bin davon überzeugt, dass ihr miteinander auskommen und vielleicht sogar richtige Geschwister werdet."
Mit zusammengepressten Lippen nickte ich. Das glaubte ich nicht.
"Du musst verstehen, dass Kieran der Verlust seiner Mutter sehr zugesetzt hat", fuhr Großvater fort und ein mildes Lächeln legte sich auf sein Gesicht.
Ich verstand. "Ich weiß. Meine Mama ist auch tot."
Großvater tätschelte meine Hand. "Unter anderem deshalb habe ich dich ausgesucht. Ihr könnt euch gegenseitig helfen. Vielleicht du ihm sogar noch ein wenig mehr als er dir."
Ich verstand und nickte.
"Sehr schön. Ich denke, du wirst einen guten Einfluss auf ihn haben."
"Aber", wisperte ich. "Vielleicht will er nicht, dass ich ihm helfe." Ein dünner Faden Angst begann sich in meiner Brust zu spinnen. Was wenn ich kein guter Einfluss war? Was wenn ich ihm nicht helfen konnte? Würde mich Großvater dann wieder abgeben und tatsächlich durch einen Hund ersetzen?
"Da mache ich mir keine Sorgen, Marisol." Er widmete sich wieder seinem Teller. "Du wirst das schon schaffen. Versprichst du mir das?"
"Ja", nuschelte ich kaum hörbar. Am liebsten hätte ich keinen Pieps mehr von mir gegeben.
Der Appetit war mir vergangen und ich pickte lediglich die einzelnen grünen Paprikastückchen aus dem Gemüse. Im Gegensatz zu allen anderen im Heim hatte ich diese immer viel lieber gemocht als die Gelben und Roten.

༺❀༻

Ein Rascheln war zu hören, als ich mich zum gefühlt hundertsten Mal unter der Bettdecke auf die andere Seite wälzte. Ich hatte noch nie einen Stoff erlebt, der so laut knisterte wie dieser. Unruhig robbte ich ein Stück näher an die Wand. Die Seite des Kissens, auf der mein Kopf nun lag, war ein wenig kühler. Aber ansonsten war mir viel zu warm. Unter der Decke maß es bestimmt tausend Grad, aber sobald ich den Fuß rausstreckte, war es bestimmt minus tausend Grad. Wie überall in diesem Haus war es auch in Kierans Zimmer eisig.
Wachsam verharrte ich.
Ich wollte meinen neuen Zimmergenossen nicht wecken. Wobei ich mir gar nicht sicher war, ob Kieran überhaupt da war. Bis auf das unregelmäßige Rascheln meines Bettbezugs war es mucksmäuschenstill im Zimmer.
Unheimlich still.
Und dunkel. Eigentlich hasst ich es, wenn es so dunkel war. Aber es war in Ordnung, wenn ich nicht allein war. Wenn ...
Ob Kieran gestorben war? Seine Atmung war nicht vernehmbar. Lediglich als ich mich dreimal kurz hintereinander herumgewälzt hatte, meinte ich ein entnervtes Ausatmen zu hören.
Ein Stechen durchzuckte mich. Ich störte ihn. Meine Anwesenheit störte ihn. Jetzt noch mehr als beim Abendessen oder heute in dem Salon. Wie sollte ich so mein Versprechen einlösen?
Mein Herz pochte nervös. Diese unangenehme Stille machte alles nur noch schlimmer.
Mit einem Mal vermisste ich das Heim. Und noch viel mehr vermisste ich meine schnarchende Zimmergenossin. Das Kichern aus den Nachbarzimmern, das zwar verhalten, aber durch die dünnen Wände immer hörbar gewesen war. Sogar das unregelmäßige Rauschen und Knacken der Rohre, wenn jemand mitten in der Nacht auf den Pott gewandert war und man das Gefühl hatte, das gesamte Gebäude wurde unter der Wasserlast in sich zusammenkrachen.
Hier war es still. Totenstill.
Ich versuchte an mein Zimmer im Heim zu denken. Mir vorzustellen, ich würde dort im Bett liegen.
Nein, ich würde in meinem alten Bett liegen. Oder noch besser. In Mamas Bett. Sie würde mich in den Arm nehmen und mir eine Geschichte erzählen. Über ein Wesen mit langem Fischschwanz, dass Kinder, die nicht schnell einschliefen, entführte und sie in sein Unterwasserreich brachte. Und wenn es mich zu sehr gruselte, würde sie erzählen, wie viel Spaß die Kinder und das Fabelwesen in der bunten Unterwasserwelt hatten und dass es sich am Ende doch dazu entschied, die Kinder wieder zu ihren Mamas zu entlassen.
Sie würde mich fest in den Arm nehmen, ihr langes Haar über meine Schultern fallen und mir einen Kuss auf die Schläfe drücken. Es würde nach unserem Waschmittel und dem Abendessen riechen. Und nach ihrem Duft.
"Ich habe dich sehr lieb, meine kleine Marisol", würde sie flüstern. Und ihre Stimme wäre so warm, wie ihre Umarmung und Stück für Stück würde ich einschlummern.
"Ich habe dich auch lieb, Mama ..." Doch anstatt, dass sie mich fester drückte, wurde es kalt. Und statt ihren Lippen auf meiner Schläfe, spürte ich Tränen auf meinen Wangen.
Ein Schniefen entfleuchte mir. Ich presste mein Gesicht in das Kissen. Nein, ich durfte nicht weinen. Nicht hier ...
Aber ich vermisste sie so. Warum war sie nicht hier? Nicht hier bei mir. Warum war ich allein in diesem eisigen Zimmer in diesem düsteren Haus, in das ich nicht reinpasste und die Person, für die ich da war, mich eigentlich gar nicht hier haben wollte? Warum konnte ich nicht in Mamas Bett in ihren Armen liegen?
Zwischen zwei Schniefern, gedämpft durch den Stoff des Kissens, meinte ich ein Aufatmen zu hören.
Ich presste die Lippen aufeinander und hielt inne.
Aber es blieb still. Totenstill.

Echoes in TimeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt