"Und damit gehet hin in Frieden. Dank sei Gott dem Herrn." Mit diesen Worten beendete der Priester den Gottesdienst. Einen Gottesdienst, in dem ich kaum etwas verstanden hatte.
"Kein Sorge, Lateinunterricht ist selbstverständlich ebenfalls Teil deiner Ausbildung", hatte Großvater mir zugeraunt, als der Priester wieder in dieser merkwürdigen, unmelodischen Sprache vor sich hinsang und betete.
Mama hatte manchmal auch gebetet. Aber auf Spanisch. Ich hatte so gehofft, dass dieses mir hier etwas gebracht hätte. Auch wenn ich nur bruchstückhaft die Sprache meiner Mutter und ihrer Eltern konnte, war ich stolz, eine Fremdsprache zu beherrschen. Allerdings war Spanisch nicht Teil meines Schulplans. Noch nicht, wie ich hoffte. Ich hatte Angst, sie zu verlieren, wenn niemand mit mir auf dieser sprach.
Langsam trotteten wir in Richtung Ausgang, wobei Großvater es sich nehmen ließ, noch mit einem älteren Paar zu plaudern. Ich hingegen konnte es kaum erwarten aus dem kalten Kirchengemäuer nach draußen zu kommen und die wärmenden Sonnenstrahlen auf meiner Haut zu spüren. Außerdem hatte ich Lilia gesehen, die ebenfalls mit ihrer Familie den wöchentlichen Gottesdienst besuchte.
"Psst, Mari." Es war Kieran, der an dem großen hölzernen Schrank mit vergittertem Fenster stand.
Ich warf einen Blick zu Großvater, der immer noch in sein Gespräch vertieft war.
"Was gibt es?", fragte ich und lief zu ihm rüber.
"Hast du Hunger?"
Ich nickte. Zwischen Frühstück und Mittagessen lag sonntags immer gefühlt eine Ewigkeit.
Kieran streckte die Hand aus und entblößte einen kleinen Berg der Kekse, die der Priester beim Abendmahl verteilt hatte.
Entsetzt sah ich ihn an und versuchte mich so vor ihn zu stellen, dass niemand das Gestohlene sehen konnte.
"Man darf nur einen nehmen", mahnte ich.
Kieran schnaubte. "Ich glaube, die haben genug Kohle, um sich ein paar neue zu holen." Er deutete auf den reichlich geschmückten Altar mit goldenen Kelchen und die mit funkelnden Steinen besetzten, prunkvollen Kerzenständer.
"Aber wenn du nicht willst." Kieran zog seine Hand weg und schob sich zwei der Kekse, deren Namen der Priester zwar genannt, den ich mir jedoch nicht hatte merken können, in den Mund. "Mittagessen dauert noch ewig, wenn der alte Mann wie immer mit allen Gästen des Gottesdienstes quatscht."
Ich verdrehte die Augen. In dem Moment knurrte mein Magen.
Grinsend hielt Kieran mir seine Hand hin.
Seufzend nahm ich ebenfalls zwei der Kekse. Doch verzog im gleichen Moment das Gesicht. Es schmeckte wie der zuvor unheimlich pappig.
"Nächstes Mal kann ich uns vielleicht etwas Rotwein abzwacken."
"Das ist Alkohol", empörte ich mich.
Kieran legte den Finger auf den Mund. "Nicht so laut."
"Tschuldigung", flüsterte ich. "Aber das ist Alkohol."
Kieran zuckte mit den Achseln. "Meine Mama hat das auch immer gerne getrunken. Allerdings in weiß. Und danach hatte sie keine Angst mehr. Eigentlich war sie dann immer sehr fröhlich." In Erinnerung versunken starrte er auf die Steinfliesen. „Bis sie dann irgendwann wieder angefangen hat zu weinen."
Mit großen Augen sah ich ihn an. Ich hatte nicht erwartet, dass er freiwillig etwas von seiner Mama mit mir teilte, ohne dass ich es ihm aus der Nase ziehen musste.
"Das tut mir leid, dass sie so viel Angst hatte und traurig war", gab ich bestürzt zurück. "Meine Mama meinte aber immer, dass Alkohol der Teufel ist."
"Ich glaube nicht an den Teufel." Kieran deutete auf den Altar zu Jesus am Kreuz. "Und an dessen Wunder und seinen Vater auch nicht."
Ich biss mir auf die Lippe. "Wir sind in einer Kirche. Ich glaube, dass darf man hier nicht sagen."
"Sonst?" Neugierig sah er mich an.
"Ähm." Ich überlegte. "Sonst kommt man in die Hölle und wird bestraft."
Kierans Schläfen zuckten. "Ja, ich glaube, bestrafen tun die hier alle gerne."
Ich verstand nicht, was er meinte.
Kieran deutete auf eine Holztür neben ihm. "Hast du gewusst, dass sie unten im Gewölbe den Leichnam eines Heiligen aufbewahren."
Ich verzog das Gesicht. "Nein."
"In einem vergoldeten Sarg mit gläsernen Fenstern. Durch die kann man seinen mumifizierten Körper sehen."
Ich schüttelte den Kopf. "Wieso? Das klingt superekelig."
Kieran grinste. "Willst du ihn sehen?"
Eigentlich nein. Definitiv nein. Allerdings wollte ich ja, dass Kieran mich ins Vertrauen schloss. Und wenn er Geheimnisse mit mir teilte, würde ich vielleicht seine Freundin werden und konnte ihm helfen.
"Ist es da unten dunkel?", fragte ich gequält.
"Nur ein bisschen. Aber ich habe eine Taschenlampe am Handy."
Misstrauisch beäugte ich ihn. Zum einen war ich davon überzeugt, dass die Taschenlampe kaum half. Zum anderen fragte ich mich, warum er ein Handy hatte und ich nicht.
Wie unfair. Ich wollte Lilia, Mei, Halima und Banu vielleicht auch einmal Nachrichten schreiben oder mit ihnen telefonieren. Aber aktuell war ich abgekappt und der Laptop stand nur zum Lernen in Aufsicht von Yuna zur Verfügung.
Kieran blickte sich um. Doch die Kirche war wie leergefegt. Selbst der Priester und sein Messdiener waren nach draußen gegangen. Ich konnte es ihnen nicht verdenken. Draußen schien die Sonne, hier drinnen herrschte eine erdrückende Stimmung wie bei einer Beerdigung.
Auf leisen Sohlen schritt Kieran zu der morsch dreinschauenden Holztür und drückte vorsichtig die alte Bronzeklinke hinunter.
Er lächelte.
"Offen", flüsterte er.
Schweren Herzens schlich ich ihm nach.
Mucksmäuschenstill und einen letzten Blick in den Kirchensaal werfend, folgte ich ihm durch den schmalen Spalt zwischen Tür und Rahmen.
Es war stockduster.
Augenblicklich stieg mir die Galle hoch.
Kieran schaltete die Taschenlampe an. "Mach die Tür zu, Mari."
Mit tauben Fingern schloss ich sie. Und wie befürchtet machte die Taschenlampe alles nur noch schlimmer. Eine schmale, alte, steinerne Wendeltreppe erstreckte sich vor uns. Das Licht erhellte die Stufen, aber außerhalb des Scheins war es pechschwarz.
Ich versuchte nicht an die Gruselgeschichten von Mama zu denken, was im Dunkeln lauerte. Und erst recht nicht an die Toten und Teufel, die in einem Kirchkeller warteten.
"Okay, ganz vorsichtig. Die Stufen werden echt schmal", murmelte Kieran und schritt voran.
Jede Faser meines Körpers schrie sofort umzukehren. Ins Helle. Ins Sichere.
Aber entgegen der pochenden Angst, wagte ich mich vorsichtig einen Schritt hinab. Und noch einen. Und noch einen.
Kieran schritt zügiger voran. Der Lichtschein entfernte sich.
Tiefe Schwärze umfing mich.
Mein Puls jagte in die Höhe und mein Herz hämmerte mit ihm um die Wette.
Hatte mich etwas gestreift? Was war das Knacken?
Nein. Ich konnte das nicht. Ich konnte mich keinen Schritt weiterbewegen.
"Kieran?", fragte ich zitternd. Erste Tränen lösten sich bereits aus meinen Augen. Blanke Panik fegte durch meinen Magen.
Ich ließ mich auf der Stufe nieder. Es war wie im Wald ...
Es war dunkel und ich allein und ...
"Mari?"
Ein plötzlicher Lichtschein blendete mich.
Ich blinzelte kurz und presste die Lider zusammen.
"Oh, tut mir leid." Das gleißende Licht dämpfte etwas ab.
Wieder blinzelte ich. Ich sah noch immer die tiefe Schwärze des vor mir liegenden Gangs. Aber um mich herum war es erleuchtet. Kieran hockte auf der Stufe unterhalb meiner Füße.
"So schlimm?", fragte er.
Ich nickte, schüttelte dann jedoch den Kopf. Ungelenk wischte ich mir über die Augen.
Im nächsten Moment sah ich ein weißes Stofftuch.
"Keine Sorge, ich habe nicht reingeniest", entgegnete Kieran.
Dankbar ergriff ich es und wischte mir die Tränen weg.
Als ich es zurückgeben wollte, winkte er ab.
"Behalt es ruhig."
"Aber du hast mir schon den Bären ... Miau geschenkt. Ich will dir nicht alles wegnehmen."
"Alles." Kieran lachte auf. "Weil ich ja so wenig habe. Behalt es ruhig. Du scheinst es öfters zu brauchen."
Nachdenklich musterte ich den nassen Stoff. "Weinst du gar nicht?"
Bis auf die Nacht, in der ich mich im Wald verirrt hatte, hatte ich ihn noch nie mit roten Augen gesehen oder leise wimmern hören, wie ich es so oft tat.
Kieran kratzte sich am Kopf. "Doch, oft." Er schmunzelte mich an. "Aber seid du in meinem Zimmer schläfst, dort nicht mehr."
"Oh, das tut mir leid. Du kannst aber dort weinen, wenn ich da bin ..."
"Alles gut. Ich gehe auf Toilette oder in den Wald."
"Aber da bist du doch dann allein."
„Genau deshalb."
„Aber warum denn?"
Er verzog den Mund. "Warum nicht?"
"Weil dann kann dich doch niemand trösten." Ich legte den Kopf schräg.
„Wer sollte mich trösten?"
„Ich weiß nicht. Vielleicht Yuna oder Großvater."
Kierans Züge spannten sich an. "Tröstet er dich?"
Ich überlegte und schüttelte den Kopf. Allerdings hatte ich kaum vor ihm geweint. Außer nach dem Wald und da war er sauer gewesen.
„Eben", kam es trocken zurück.
"Das ist nicht so nett von Großvater", murmelte ich.
"Ja, der alte Mann ist nicht so nett."
"Warum sagst du immer alter Mann und nicht Großvater?"
"Meine Mutter meinte, wenn wir allein waren, auch immer alter Mann." Kieran zuckte mit den Schultern. "Ich finde, er verhält sich nicht wie ein Großvater."
"Aber er ist schon für uns da, gibt uns Essen, sorgt dafür, dass wir in der Schule gut sind", zählte ich auf.
"Hast du jedes Mal so Angst, wenn du im Dunkeln bist?", fragte Kieran.
Verwirrt über den plötzlichen Themenwechsel sah ich ihn an.
Er jedoch schwieg.
Noch einmal schniefte ich. "Ja, eigentlich immer."
Kieran lehnte sich ein Stück nach vorne und ... griff meine Hand.
Überrascht musterte ich ihn, während sein Blick ernst wurde. Todesernst.
"Dann rate ich dir, Großvater zu gehorchen." Mit Nachdruck fügte er hinzu: "Immer zu gehorchen."
"Wieso?"
Ein Knacken ertönte und wir zuckten beide zusammen.
Kieran stand auf. "Ich glaube, das war eine saublöde Idee. Wir sollten wieder hoch."
Dankbar nickte ich.
Kieran schob sich an mir vorbei, ohne meine Hand loszulassen.
Ich folgte ihm. Weit waren wir ohnehin gekommen.
Bevor er die Klinke runterdrückte, drehte er sich noch einmal um. "Nächstes Mal machen wir etwas, das dir Spaß macht, okay?"
"Okay", wisperte ich. Vielleicht ein Picknick in der Sonne oder gemeinsam mit Barbies spielen. Bei der Vorstellung an letzteres musste ich grinsen.༺❀༻
"Da seid ihr ja wieder", grüßte Yuna uns auf der Auffahrt. "Wie war der Gottesdienst?"
"Langweilig", schoss Kieran hervor.
"Kieran", mahnte Großvater.
"Ich meinte großartig", wiederholte dieser artig, wobei es schlimmer klang als Fickscheiße.
"Ich habe nicht so viel verstanden", erwiderte ich ehrlich.
„Sie sollte dringen Latein lernen", kommentierte Großvater in Yunas Richtung.
„Sicher? Also jetzt schon? Wir sind aktuell noch mit Französisch beschäftigt", gab Yuna zurück.
Angespannt blickte ich zu Großvater. Er mochte keine Widerworte.
Während Großvater und Yuna sich in eine hitzige Diskussion über Sprachen vertieften, drückte mir allmählich die Blase.
"Ich glaube, ich muss mal", erhob ich vorsichtig meine Stimme.
"Marisol", mahnte Großvater, "Das heißt, du musst kurz einmal austreten. Niemand muss wissen, wie es um den Zustand deiner Blase bestellt ist.
Mir entging nicht Kierans feixender Blick und ich nickte. "Ja, Entschuldigung. Ich muss kurz einmal austreten."
"Alles klar, geht schon einmal rein, Kinder."
Kieran und ich liefen zum Haus und traten ins Innere.
"Ich glaube, ich übe noch ein wenig Klavier", murmelte dieser. Doch bevor er davonlief, blieb er stehen. "Willst du mitkommen und ein paar Takte lernen?"
Begeistert nickte ich und folgte ihm, als plötzlich das Schließen einer Tür aus dem Inneren des Hauses zu hören war.
Erschrocken hielt ich inne und auch Kieran machte abrupt Halt.
Großvater war noch draußen und die Haustür war es nicht gewesen. Auch die übrigen Bediensteten waren sonntags aus.
Dieses Mal war ich es, die Kierans Hand griff. Wobei das wohl nicht besonders schlau war. Sollte es ein Einbrecher sein, sollte ich nach einem der alten Gehstöcke im Bronzehalter oder einer Vase greifen. Vielleicht eines der hässlichen Jagdgemälde, über die Großvater gerne stundenlang schwafelte. Wobei er dann sehr sauer sein würde und das Bild bestimmt sehr teuer war.
Schritte erklangen und näherten sich uns.
"Hallo?", rief Kieran.
Am liebsten hätte ich ihm eine Vase drüber gehauen. So wusste der Einbrecher doch, wo wir waren.
Gerade wollte ich reißausnehmen und mich verstecken, als ein weißer Kittel zu sehen war. Ein weißer Kittel mit einem bekannten Träger.
Großvaters Arzt?
"Sie", zischte Kieran und ich ließ seine Hand los.
"Ah, ihr seid schon zurück vom Gottesdienst", entgegnete der Mann freundlich lächelnd, aber ich traute ihm nicht. Wieso war er hier, wenn Großvater nicht da war?
"Ja, und Sie kommen jetzt auch sonntags", entgegnete Kieran.
"Ja." Der Mann blickte zu mir. "Die Beatmungsmaschine eures Großvaters ist kaputtgegangen und damit er auch von Sonntag auf Montag gut schlafen kann, habe ich sie repariert."
"Ah", erwiderte ich und nickte fachmännisch. Das machte Sinn.
Kieran schien nicht so wohlwollend gestimmt zu sein. Allerdings mochte er Großvater auch nicht besonders. Ein schockierender Gedanke kam mir. Ob er wollte, dass Großvater starb?
"Unser Großvater freut sich bestimmt", giftete Kieran. "Er ist draußen. Dann können Sie ihm direkt die tollen Neuigkeiten verkünden."
"Vielen Dank, junger Mann", kam es mit friedvoller Stimme zurück und der Arzt zog an seinem Stethoskop um den Hals. "Dann werde ich genau das tun." Damit schritt er von dannen in Richtung Ausgang.
"Du magst ihn nicht besonders, oder?", flüsterte ich.
"Er schleicht hier rum, als ob er hier wohnen würde", erwiderte Kieran.
"Aber ist das so schlimm? Das Haus ist doch groß und er ist eigentlich immer sehr freundlich."
"Weißt du, wo Großvaters Zimmer ist?", fragte Kieran aus dem Nichts.
Stumm zeigte ich nach oben.
"Genau, und woher kam der Arzt?"
Mein Finger wanderte in Richtung des Flurs. Der Bücherraum lag dort sowie der verbotene einsturzgefährdete Trakt und ein Raum mit Ausstellungsstücken von Vorfahren.
"Meinst du er klaut Sachen?", fragte ich entsetzt.
Kurz schien Kieran mit sich zu hadern. Wusste er, was der Arzt hier trieb?
Dann lief er mit einem Schulterzucken los.
Ich verstand ihn nicht.
Er drehte sich auf halbem Weg um. "Kommst du? Du wolltest doch Klavier lernen."
Eifrig nickend folgte ich ihm.
Ein letztes Mal blickte ich zurück. Doch der Arzt war mittlerweile verschwunden.
DU LIEST GERADE
Echoes in Time
RomanceMit acht Jahren wird Marisol adoptiert und zieht in das alte, riesige Herrenhaus der Familie Delorean ein. Dort erwartet sie nicht nur ein neuer Großvater, sondern auch Stiefbruder. Kieran, der Junge in ihrem Alter, zeigt ihr unmissverständlich, das...