„Achtung Schlagloch", schrie Mei vor mir und schlug mit ihrem Fahrrad einen scharfen Schlenker nach rechts.
Völlig aus der Puste versuchte ich auszuweichen und, noch viel sauerstoffzehrender, mit ihr mitzuhalten. Allerdings brannten meine Waden wie Feuer, nachdem unsere Trainerin uns zu drei Extrarunden beim Aufwärmen verdonnert hatte. Dass ich im höchsten Gang fuhr, trug auch nicht unbedingt zu meiner aktuellen Kondition bei. Woher Mei immer ihre Kraft zog, blieb mir ein Rätsel. Ich fühlte mich wie eine matschige Nudel, die zu lange im kochenden Wasser gelegen hatte. Und Hunger hatte ich jetzt auch. Toll.
Beinahe fürchtete ich den Anschluss an sie vollends zu verlieren, als Mei scharf abbremste und stehen blieb.
Es war die Gabelung, an der wir uns auf dem Heimweg immer trennten. Sie musste weiter geradeaus und ich nach links. Zu meinem Zuhause.
„Und sie hat es geschafft", grölte Mei.
Schnaubend kam ich neben ihr zum Stehen. „Danke, kein Applaus bitte."
„Mein Herzchen, Applaus gibt's erst, wenn du mich überholt hast."
Ich lachte theatralisch, woraufhin direkt ein Hustenanfall folgte.
„Mari, Mari. Wenn du beim nächsten Spiel nicht auf der Ersatzbank sitzen willst, dann solltest du dringend an deiner Ausdauer arbeiten."
Mit zusammengekniffenen Augen fixierte ich sie. „Du weißt, dass ich bei keinem der Spiele dabei sein kann. Weder auf der Ersatzbank noch auf dem Platz"
Ein ärgerlicher Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. „Weil der alte Pisser dann Stress macht."
„Meiiii", fuhr ich sie an und sah mich ängstlich um. Dabei war das Haus noch ein gutes Stück entfernt und Großvater nicht der Mann für Spaziergänge.
„Was denn? Ganz ehrlich, ich würde dem Typen eine klatschen und ihn selbst mal in den Keller seines hässlichen Bonzenhauses stecken."
Für einen kurzen Moment bereute ich es, die Geschichte Mei und auch Banu nach ein paar Longdrinks zu viel anvertraut zu haben. Sie waren die Einzigen, die außer den Menschen innerhalb der Mauern des alten Herrenhauses Bescheid wussten.
„Tut er ja nicht mehr", murmelte ich.
„Gut für ihn", Mei verschränkte die Arme und balancierte auf Zehenspitzen das Fahrrad unter sich. „Sonst hätte ich ihn durch alle Gerichtsinstanzen geschleift, bis er für immer im Knast verrottet wäre."
Ich grinste sie an. „Ich dachte, du willst kein Jura studieren."
Sie seufzte. „Nee, will ich auch nicht, aber meine Eltern locken mit einem neuen Auto und Apartment in einer anderen Stadt. Und du weißt, ich kann es gar nicht erwarten, endlich von zuhause rauszukommen und dieses verdammte Kaff zu verlassen."
„Dito", gab ich zurück und blickte in die Ferne.
„Weit ist es nicht mehr", meinte Mei. „In nicht mal einem Jahr sind wie alle volljährig und dann Scheiß auf die Alten."
„Wenn sie uns so einfach gehen lassen", merkte ich grübelnd an.
„Also ich pack mir schon ein bisschen was von meinem Taschengeld beiseite, falls es doch nicht Jura wird und mir der finanzielle Nährboden entrissen wird."
Ich kaute auf der Innenseite meiner Wangen.
„Kannst du nicht auch etwas abzwacken?", fragte Mei.
„Ich weiß nicht. Vor allem, ohne dass Großvater etwas mitbekommt ..."
Mei grinste. „Ach komm, der ist doch schon halb senil. Und erzähl mir nicht, dass dein Bruder den alten Knacker nicht bereits jetzt um sein Vermögen erleichtert."
Ich verdrehte die Augen. Zum einen, weil ich ihn auch jetzt nicht als meinen Bruder bezeichnen würde. Zum anderen ja, Kieran ließ ständig Sachen aus dem Haus verschwinden. Allerdings für Alkohol, Gras und Partys. Ich war mir sicher, dass Großvater etwas ahnte. Aber seitdem Kieran ihm nicht nur größen-, sondern auch kräftetechnisch überlegen war, gab es nichts, was er ihm entgegensetzen konnte. Die Machtverhältnisse im Haus hatten sich gewandelt. Schleichend und unausgesprochen.
Seine Drohung von damals, den Stock selbst in die Hand zu nehmen und Großvater zahlen zu lassen, hatte Kieran nicht in die Tat umgesetzt. Gottseidank. Auch wenn er wahrscheinlich alles Recht hatte, im Falle einer Eskalation eine Art ausgleichender Gerechtigkeit zu schaffen.
Oft hatte ich befürchtet, die Situation würde wieder kippen. Aber sowohl Kieran als auch Großvater hielten – trotz ständiger Provokationen – aktuell die Füße still. Kein Keller, keine Schläge, keine Gewalt, aber die Anspannung war formlich spürbar. Es war wie ein Pulverfass oder ein sehr brüchiger Frieden. Aber auch wenn er brüchig und wohl mehr Schein als Sein war, wollte ich ihn um alles in der Welt bewahren wollte.
„Sehe ich sehr verschwitzt aus?", fragte ich Mei vorsichtig.
Diese entblößte in einem verzweifelten Grinsen die Zähne. „Ehrlich?"
„Ja, die knallharte Wahrheit bitte", gab ich zurück. Wenn Großvater davon Wind bekam, dass ich heimlich Fußball spielte, anstatt die Kunst AG zu besuchen, wusste ich nicht, ob der brüchige Frieden nicht doch zerspringen würde.
„Du hast ein bisschen was von einer nassen Erdbeere", gab Mei zurück. „Vielleicht machst du die Haare auf, dann sehen sie nicht so schwitzig aus."
Ich tat wie befohlen. „Vielleicht kann ich auch sagen, dass es vom Fahrradfahren kommt."
„Ja, nur noch Erdbeere jetzt."
„Vielen liebsten Dank für deine Ehrlichkeit", neckte ich sie.
„Immer gerne. Apropos ehrlich. Nächstes Wochenende steigt bei euch was?"
Mit großen Augen sah ich sie an. „Sagt wer?"
„Dein Bruder."
„Er ist nicht mein Bruder. Aber egal. Tut er das?"
„Ja, er hat wohl Lilia erzählt, dass ihr sturmfrei habt und ein paar Leute kommen."
Ich stöhnte. Auch wenn ich gerne mitfeierte, blieb die Beseitigung des Chaos am nächsten Tag meist nicht beim Veranstalter selbst hängen, sondern bei Yuna und mir. Kieran höchstpersönlich katerte aus, während Yuna – wahrscheinlich um ihr schlechtes Gewissen uns gegenüber zu beruhigen – und ich aufräumten und schrubbten. Bis heute hatte unsere Erzieherin keinen Ton zu den Strafen von Großvater fallen lassen.
„Schau nicht so. Dieses Mal bleiben wir zum Aufräumen oder kommen wieder."
Ich musterte Mei. „Ist das so?"
Sie schmunzelte. „Ja, bestimmt. Wahrscheinlich. Auf jeden Fall. Denke ich."
„O Mann, wenn sich die Einladung schon verbreitet hat, kann ich wohl wenig tun."
„Wir können ja mit Banu nochmal diesen geilen Longdrink mischen. Mit was war das? Rum, Wodka und ..."
„Sekt", gab ich zurück und zum wiederholten Male drehte sich mir der Magen um. „Das war superekelig." Allerdings hatte es dazu geführt, dass ich Banu und ihr von der Hölle zuhause erzählt hatte. Auch wenn wir sturzbetrunken waren und ich am nächsten Morgen am liebsten im Boden versunken wäre, hatte es sich ein Stück befreiend angefühlt. Als ob ein Teil der schweren Last zwar nicht verschwunden war, aber zumindest für einzelne Momente nicht mehr nur auf meinen Schultern ruhte.
„Ja, vielleicht lassen wir das auch lieber und bleiben bei Sekt", gab Mei zurück. „Oder Champagner."
Ich nickte und gab ihr einen freundschaftlichen Stups. „Ich glaube, ich muss langsam nach Hause."
„Alles klar." Mei lehnte sich nach vorne und wäre beinahe samt Fahrrad auf mich gekippt. Im letzten Moment fing sie sich jedoch.
Zum Abschied umarmte sie mich. „Du meldest dich, wenn was ist", nuschelte sie in mein Haar.
„Mhm", gab ich zurück. „Du auch."
An unserem Alkoholabend war ich nicht die Einzige, die eine Wahrheit hatte fallen lassen. Mei hatte von den Schwierigkeiten mit und zwischen ihren Eltern berichtet. Von herumfliegenden Dekoartikeln und gelegentlichen Handgreiflichkeiten. Hoffnungslos musste ich erkennen, der Morast endete nicht an den Grenzen unseres Heims.
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Echoes in Time
RomanceMit acht Jahren wird Marisol adoptiert und zieht in das alte, riesige Herrenhaus der Familie Delorean ein. Dort erwartet sie nicht nur ein neuer Großvater, sondern auch Stiefbruder. Kieran, der Junge in ihrem Alter, zeigt ihr unmissverständlich, das...